Großartiger Blick auf eine großartige Stadt. Seattle ist eines der reizvollsten Ziele in den USA.

Großartiger Blick auf eine großartige Stadt. Seattle ist eines der reizvollsten Ziele in den USA.
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Seattle – Umbruch und Aufbruch

Die Westküste Nordamerikas entwickelt sich immer mehr zum Hotspot für Besser-Esser, vor allem Seattle steht gerade für einen kulinarischen Boom, der auf die ganze Region abstrahlt.

Über allem thront der Mount Rainier. Der Vulkan blickt auf eine Stadt in Bewegung: Es geht ihr wirtschaftlich gut, sie zieht junge Leute an. Der Berg blickt auf eine Stadt der Widersprüche: wohlhabend und doch Hauptstadt der Obdachlosen, die man zu Hunderten sieht. Und er blickt auf eine Stadt des Genusses: boomende Weinszene, fantastisches Seafood und ein Trend zu mehr asiatischen Restaurants. »Seattle ist die einzige US-Stadt, in der es mehr Teriyaki-Lokale als Pizzerien gibt«, sagt Providence Cicero, die Restaurantkritikerin der »Seattle Times«. »Viele junge Tech-Angestellte ziehen hierher. Gerade sie wollen Asiatisches.«

Eines der neuen Lokale ist das »Lionhead«, in dem Kenny Lee Sichuan-Küche zelebriert. Zwei Symbole zeigen dem Gast, worauf er sich einlässt: ein Pfefferkorn signalisiert, dass ein Gericht »numbing« ist, die Zunge betäubt. Die Anzahl der Chilischoten informiert über den Schärfegrad. Sensationell der Silky Salad aus gedämpfter, mit gereiftem Black Vinegar marinierter Melanzani. Geschmacklich vielschichtig sind die Hauptgerichte. Das höllisch scharfe Mapo-Doufu-Schwein mit Chili-Öl und Sichuan-Pfeffer hat es uns besonders angetan. Das »Lionhead« ist cool: Glühbirnen, laute Musik, viele geflochtene Vollbärte.

Konservativer ist das »Maneki« in einer steilen Nebenstraße des International Districts. Es existiert seit 1904 und war das erste Restaurant in Seattle, das Sushi servierte. Im »Maneki« bringen ältere Damen aus Japan umwerfend gute Sushi und Sashimi. Japanischer Snapper oder Yellowtail-Makrele sind hier unerreicht in Frische und Reinheit. Das dunkel leuchtende Sashimi vom Bluefin-Thunfisch verzückt durch immense Cremigkeit, noblen Geschmack und ein langes Echo. Inhaberin Jean Nakayama erzählt, dass auch Bluefin schon gezüchtet wird. Es gebe Farmen in Japan und Australien. Auf der Karte finden sich siebzehn Sakes, acht japanische Wodkas und sechs japanische Biere. »Asahi aus der Dose ist am besten«, sagt Nakayama, »das schmeckt wie in Japan. Die Flaschenbiere werden in Kanada gebraut.«

Neben Asien der zweite Trend: Steakhäuser. »Das Steak erlebt eine Renaissance«, so Providence Cicero. Bestes Beispiel ist das »Bateau«, in dem riesige Lampenschirme aus weißem Holz von der Decke baumeln. Metzger Tom Coss und Koch Taylor Thornhill verarbeiten ganze Rinder von der eigenen Farm. Aus den schlechten Teilen machen sie Wurst, einiges wird geschmort, das meiste kurz gebraten. »Hier bekommt man die tollsten Stücke, die es sonst nirgendwo gibt«, sagt Geschäftsführerin Jamie Irene. In der Tat: Kannten Sie Velvet (aus der Haxe) oder Ranch Top (aus der Schulter)? Die Cuts stehen auf einer Schiefertafel. Ist eine Charge ausverkauft, nimmt ein Kellner ein Stück Kreide und streicht sie durch. Es gibt 28, 35 und 42 Tage gereiftes Fleisch. Die Steaks sind mürbe und haben einen markanten Geschmack. Auch hier kaum ein Jacket zu sehen.

Das »Bateau« liegt im Herzen des Szeneviertels Capitol Hill. Viele junge Leute, eine Kneipe neben der anderen. Hier ist die Statue von Jimi Hendrix, dessen Leben auch im EMP-Museum gewürdigt wird. Man kann es von der Space Needle aus gut sehen. Zweiter Hotspot ist die Waterfront. Von dort kann man Schiffsausflüge nach Bainbridge machen. Unvergleichliche Sicht auf Skyline und Vulkan. Noch schöner ist das Essen. »Die Seattleites sind Seafood-Liebhaber. Von Kind auf angeln sie, suchen Muscheln«, so Providence Cicero. »Es gibt kaum ein Restaurant, das keinen Heilbutt, keinen Lachs hat. Die Leute möchten wissen, aus welchem Fluss ihr Lachs ist.«

In »Elliott’s Oyster House« am Pier 56 bekommt man hervorragenden King-, Sockeye- oder Coho-Wildlachs. Und vor allem Austern. Auf der Karte stehen 45 Positionen! Neben den gängigen Sorten gibt es Kumamoto-Austern und die vor einigen Jahren fast ausgestorbene native Westküstenauster Olympia. Bei jedem Produzenten wird angegeben, wie er seine Austern heranwachsen lässt: erst auf Regalen und dann im Sack. Oder auf frei im Wasser schwebenden Tabletts. Oder subtidal, im tieferen Wasser unterhalb der Gezeitenzone. Wir essen kleine, jodige Taylor-Kumamotos und dann Wild Cat, Beach Island und Summerstone, allesamt milde, fleischige Pazifikaustern.

Ganz in der Nähe ist der Pike Place Fish Market. Darüber thront das »Matt’s in the Market«. Koch Shane Ryan hat auch bei Joel Robuchon in Las Vegas gearbeitet. Er serviert gebackene Austern mit eingelegten Fiddleheads, das sind Farn-Triebe. Genau das richtige Verhältnis von knusprigem Teig und cremigem Inneren. Noch besser gelungen ist der Hauptgang: gedämpfte Mies- und Herzmuscheln. Ryan kombiniert sie mit Chorizo und weißen Bohnen. Der Sud hat immense Tiefe. Die Muscheln sind größer und besser als ihre europäischen Cousins.

Was hat Seattle darüber hinaus zu bieten? Northwestern-Fusion! Basis ist eine europäisch angehauchte Küche. Dazu gesellen sich fernöstliche Elemente wie Miso oder fermentierter Kohl und Nordafrikanisches wie Tahini oder Harissa. Bekanntester Vertreter dieser Küche ist »Sitka & Spruce«. Gegossener Betonfußboden, Chef’s Table für zwölf direkt vor dem Kamin. Logan Cox kocht Bistrogerichte auf hohem Niveau und erklärt seinen Ansatz: »Viele Gewürze, starke Geschmäcker.« Auch das »Lark« fällt in diese Kategorie. Koch John Sundstrom gilt als einer der besten der Stadt. Wir essen Chinook-Lachs mit Gazpachosauce und das Bio-Schweinekotelett mit Safran und Ziegenfrischkäse. Am besten war ein Signature Dish: Hamachi mit Liebstöckel.

Wir sind beim Wein. Da hat Washington viel zu bieten: Rotwein vom Columbia River, Weißwein von der Küste, etwa vom Château Ste. Michelle eine halbe Stunde vom Zentrum. Auf dem Rasen kann man im Schatten riesiger Bäume picknicken und die guten Weine trinken. Die Karten in fast allen Restaurants Seattles werden dominiert von Europäern und Ozeaniern; einheimische Weine machen allenfalls zwanzig Prozent aus.

Finden kann man sie trotzdem, im »Canlis« zum Beispiel, dem besten Restaurant der Stadt. 2500 Positionen, 18.000 Flaschen. Der Blick vom Speisesaal auf den Lake Union ist atemberaubend. Im Abendlicht schaukeln Jachten auf den Wellen und landen Wasserflugzeuge. Blickfang ist eine mit poliertem Kupfer ausgeschlagene Showküche. Küchenchef ist der 29-jährige Brady Williams, der zuvor im Zweisterner »Blanca« in Brooklyn arbeitete. Er macht filigrane Teller: über Heu geräucherter Albacore mit eingelegten Zwiebeln und einem Tomatenstrauch-Sud. Gegrillter Kohl mit federleichter Sauce Pierre. Gerstenporridge mit einem Hauch Pflaume und trocken gereifter Entenbrust. Der Service ist perfektionistisch. Wird ein Tisch neu gedeckt, kommt eine Mitarbeiterin unauffällig mit einem kabellosen Bügeleisen. Danach ist nicht das kleinste Fältchen zu sehen. Kurios ist allenfalls, dass viele hier »Caesar’s Salad« und Steak essen.

Kein Artikel über Seattle ohne Kaffee. Die Menschen scheinen süchtig danach zu sein. Wir haben 91 Filialen von »Starbucks« gezählt; 1972 hat an der Waterfront der allererste »Starbucks« aufgemacht. »Alle hacken auf ›Starbucks‹ herum«, sagt Providence Cicero. »Das ist ungerecht. ›Starbucks‹ hat den Leuten gezeigt, was ein Macchiato ist! Außerdem engagiert er sich in sozialen Fragen.« In jedem Fall gibt es viele andere Cafés, die besseren Espresso oder Cappuccino servieren, wie »Victrola« oder »Umbria«.

Wir verabschieden uns mit einem Besuch in dem Restaurant mit dem sympathischsten Konzept, dem »Carlile Room«. Es ist »ein Steakhaus, das auf dem Kopf steht«. Steaks sind Beilage, Hauptattraktion ist das Gemüse. Wir essen großartige eingelegte Wurzelgemüse mit Buttermilch und frittierten Kapern. Und gegrillten Haloumi mit Datteln, Kohlrabi und Minze.

Das »Carlile« ist auch eine Musikkneipe. So heißt die letzte Rubrik auf der Weinkarte, dem »Book of Booze«, B-Side. Dort finden sich selten nachgefragte Weine wie ein Zweigelt-Rosé von Arndorfer. Unser Favorit ist der Weirdo-Burger: Rinderfaschiertes, Foie gras, Trüffelbutter, Brillat-Savarin und Jahrgangsspeck. Fände Donald Trump verdächtig europäisch.

Kulinarische Kreationen aus Seattle

Aus Falstaff Magazin Nr. 07/2016

Christoph Teuner
Christoph Teuner
Redakteur
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