Guangzhou liegt an der Lychee Bay – der Name geht auf die Litschibäume zurück, die einst die Bucht säumten.

Guangzhou liegt an der Lychee Bay – der Name geht auf die Litschibäume zurück, die einst die Bucht säumten.
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China süss-sauer

Guangzhou hat nicht viele Sehenswürdigkeiten zu bieten. Dennoch pilgern viele Gourmets hierher – denn die Küche zählt zu den besten der Welt.

Über dem mächtigen Perlfluss (Zhu Jiang) liegt eine dünne Nebelschicht. Die Spitzen der riesigen Wolkenkratzer und auch jene des 600 Meter hohen Wahrzeichens, des Canton Tower, sind nicht sichtbar. Das bleibt während des gesamten Aufenthalts so. Modernität hat ihren Preis. Dafür ist Guangzhou in der chinesischen Provinz Guangdong ein gutes Beispiel. «Unser Bürgermeister hat einen berühmten Namen», erklärt der Reiseleiter Herr Zhao in einwandfreiem Deutsch, «er heisst Um-Bau. Denn fast alles Alte wird bei uns weggerissen und durch Neues ersetzt.»
In der Altstadt hat man zumindest einige Strassenzüge so belassen, wie sie historisch gewachsen sind. In den Alleen schwirren fliegende Händler, Lieferanten auf Rollwägen und Fahrrädern zwischen den kleinen Geschäften emsig umher. Es herrscht aufgeregte Betriebsamkeit.
Gross ist die Zahl der Sehenswürdigkeiten im Stadtgebiet Guangzhous nicht. Die meisten Business-Reisenden kommen hierher, weil rund um die Metropole Hunderte Fabriken stehen, die von Textilien bis zu Elektronik alles produzieren. Guangzhou wird auch als «Werkbank der Welt» und «Wirtschafts-motor Chinas» bezeichnet. Weithin bekannt sind die Kantonesen allerdings für ihre Küche, denn die ausgefallenen kulinarischen Spezialitäten ziehen zu Recht zahlreiche Gourmets aus aller Welt an. Wenn man Herrn Zhao dazu befragt, beginnen seine Augen zu leuchten. «Unsere Küche ist eine von acht regionalen chinesischen Küchen und die Heimat des Dim Sum.»
Dim Sum – das sind die kleinen herzhaften Köstlichkeiten, die als Yam Cha zum Tee am Morgen und bis Mittag serviert werden. «825 Dim-Sum-Gerichte gibt es in Guangdong», erklärt Herr Zhao stolz. Insgesamt kennt man in der kantonesischen Küche 5400 verschiedene Rezepte.
«Sie brauchen lange Zeit, wenn Sie alles kosten wollen», meint er lächelnd. Auf die Frage, welche Restaurants in der Millionenstadt die beste original kantonesische Küche anbieten, kommt der Fremdenführer richtig in Redefluss.

Reiche Kochtradition

Zweitausend Kilometer vom kaiserlichen Hof entfernt konnte sich in der subtropischen nahrungsreichen Provinz eine eigenständige Küche entfalten, die sich durch Weltoffenheit und Kreativität auszeichnet. Viele der grossen Restaurants sind alt und blicken auf eine lange Geschichte zurück. So etwa das «Panxi», das seit 1853 idyllisch am kleinen See der Lychee Bay liegt. Auf 12.000 Quadratmeter Fläche serviert das Restaurant hochkarätigste kantonesische Küche.
Bis vor wenigen Jahren war das Lokal, das 3000 Gästen Platz bietet, auch das grösste Chinas. «Die Dim-Sum-Spezialitäten vom ‹Panxi› gehören zu den besten der Stadt», bestätigt Herr Zhao und fügt im nächsten Atemzug ein weiteres Restaurant hinzu, das es «erst» seit 30 Jahren gibt und das für -seine exzellente Küche – inklusive der sensationellen Dim Sums – ebenso weit über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt ist: Das «Peach Blossom» im «LN Garden Hotel». Hier gibt es in feinem Ambiente erstklassige Spezialitäten wie etwa die «Betrunkenen Garnelen», die lebendig mit dem gelben Reiswein Hua Diao übergossen werden. Wenn sie vom Alkohol betäubt sind, werden sie gekocht. Das Ergebnis ist sensationell, denn das Fleisch trägt den zarten aromatischen Hauch des Weines. Eine andere Spezialität ist das «Bettlerhuhn», das ungeachtet seines Namens sehr aufwendig in der Zubereitung ist: Unter einem dicken Teig- oder Tonmantel, der vor dem Servieren aufgeschlagen wird, verbirgt sich ein mit verschiedenen Gemüsen gefülltes Poulet, das stundenlang luftdicht gegart wurde und nach dem Öffnen sein ganzes Aroma entfaltet. Das Fleisch zergeht auf der Zunge.

Wie auch bei den anderen kantonesischen Spezialitäten sucht man dicke Saucen vergeblich. Die sehr linde Küche betont vielmehr den Eigengeschmack der Zutaten. Suppen – wie etwa jene mit den doppelt gekochten Meeresschnecken, mit chinesischen Oliven und Erbsen – sind klar und sollen die Körperenergien auffrischen. Gemäss der traditionellen chinesischen Medizin sollen die feinen Zutaten als reinigendes, energiespendendes Tonikum wirken.
Auf die Frische der Zutaten wird allerhöchster Wert gelegt, denn Sauberkeit und Frische gelten als taoistische Tugenden. Daher befinden sich in den Foyers der Restaurants unzählige Aquarien mit lebenden Fischen, Fröschen, Wasserschlangen, Sumpfschildkröten, Muscheln, Schnecken, Krebsen und Krabben. Süsswasserfische gelten übrigens aufgrund ihres starken Eigengeschmacks als weitaus grössere Delikatesse als Meeresfische.

Huldigung des Schweins

Zum traditionellen kantonesischen Menü gehört neben den knackigen frischen Gemüsen wie Wasserspinat und Pak Choi, die nur kurz im Wok geschwenkt und mit einem Hauch Knoblauch gewürzt werden, vor allem Schweinefleisch. Dabei gibt es keinen Teil des Schweins, der nicht gegessen wird. Die Zubereitung ist ebenfalls höchste Kunst, denn es gilt als besonders delikat, wenn die Schwarte knusprig und das darunterliegende Fleisch butterweich ist.

Auch zum grillierten Schweinefleisch Char Siu wird keine Sauce gereicht, sondern das Fleisch wird mit dunkler Sojasauce, Honig und Five-Spice-Powder gebeizt, langsam geröstet und kann so sein volles Aroma entfalten. In unseren Breiten bekannt und nicht mit dem Original zu vergleichen, ist das süsssaure Schweinefleisch mit einer Sauce aus Weissdornfrüchten. Das frittierte Fleisch bleibt knusprig und ertrinkt nicht in einer breiigen Sauce. Statt des Schweinefleischs gibt es übrigens auch eine Variante mit Crevetten, die man im traditionellen Restaurant «Tao Tao Ju», das es übrigens seit 1880 in der Altstadt von Guangzhou gibt, kosten kann. Dort serviert man auch die in einer Suppe gekochte Sumpfschildkröte. Das weiche, nicht sehr stark aromatische Fleisch wärmt den Körper.

Die Sorge, dass einem als Europäer solche Spezialitäten «untergemischt» werden, kann man getrost vergessen, denn Schildkröten, Schlangen und Ähnliches sind teuer.

Einfach, aber genial

Knapp eine Stunde südlich von Guangzhou liegt die Provinzstadt Shunde, die für den Garten «Qing Hui Yuan» («Garden of Pure Splendor») bekannt ist. Berühmt ist die Stadt im Foshan-Distrikt aber vor allem für ihre grossartige lokale Küche, die stark von den bäuerlichen Traditionen geprägt ist.
«Früher gab es zwischen Hongkong und Guangzhou riesige Gemüsefelder, Fisch- und Schweinezuchten. Sie waren es, die dieser Küche das Lokalkolorit verpassten und grossartige einfache Gerichte schufen», erklärt Sandy Li, die als Managerin im «LN Garden Hotel» arbeitet und uns vieles in Shunde zeigt.
Im traditionellen Restaurant «Zhuroupo» etwa werden gedämpfter Tofu in einer fein marinierten hellen Sojasauce, gedämpfter Süsswasserfisch auf einem Gemüsebett, pfannengerührte Kresse, eine klare Suppe aus Schweinefleisch, gekochte Schweineinnereien und gedämpfter weisser Reis mit Ingwerpaste serviert. Wieder steht die Ausgewogenheit der Gerichte im Vordergrund. Keine Speise ist zu intensiv gewürzt – selbst der eingesalzene Fisch mit Schweinespeck und kantone-sischer Wurst ist perfekt auf den Punkt zubereitet. Kein Wunder, dass Salz und Pfeffer auf dem Tisch fehlen.

Kulinarische Überraschung

Zu den berühmtesten Sehenswürdigkeiten Guangdongs gehören ohne Zweifel die architektonisch einzigartigen Diaolou-Wohn-Verteidigungshäuser in der ländlichen Umgebung von Kaiping. Mehr als 1800 solcher zumeist fünfgeschossiger Häuser gibt es hier noch. «Besonders spannend an den Diaolou ist die Kombination westlicher und chinesischer Architektur. Viele Chinesen, die ihre Heimat im 19. Jahrhundert verlassen hatten, kamen mit dem im Ausland verdienten Geld zurück und liessen diese Gebäude errichten. Dabei flossen Stilelemente aus Europa in die Architektur mit ein.»

Die ländliche Umgebung bietet übrigens auch einen guten Einblick in die bäuerliche Kulinarik: Frisch aus dem Weiher gefangene Aale und Welse werden samt frischem Gemüse vor den Augen der Gäste zubereitet. Ein Festmahl, das typisch ist für diese Region.

Aus dem Falstaff Magazin Nr. 03/2017

Wolfgang Weitlaner
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