© Jon. Verhoeft

Brüssel: Genuss bis zum Umfallen

Belgiens Hauptstadt ist eine kulinarische Weltstadt, die dem neugierigen Esser alles bietet. Ein fröhlicher Streifzug durch eine weithin unterschätzte »Fressmetropole«.

Was für ein Krach! Hupen, Abgasgestank. Verschleierte Frauen, Männer in afrikanischer Kleidung, Müllsäcke, billige Elektronikläden, Händler mit Chilis und Kochbananen in der Auslage. Die Rue Ropsy Chaudron im Stadtteil Anderlecht. Endlich die steinernen Stiere. Sie flankieren die Einfahrt zum Schlachthof. Gegenüber das »La Paix«. Hundert Jahre lang war es ein Fleischrestaurant; David Martin hat es zu einem Hotspot für Gourmets gemacht.
Brasserie-Atmosphäre, ein Aquarium mit Langustinen und King Crabs, an der Decke ein Schwarm von hundert aus Blechfolie gefalteten Kranichen, die eine japanische Legende darstellen. Martin, der bei Passard und im englischen Königspalast gearbeitet hat, ist fasziniert von Japan. Er erzählt vom Meister, der darauf besteht, dass seine Sushi dreißig Sekunden nach dem Schneiden gegessen werden, weil sonst die Spannung im Fisch weg sei. Das gelte auch für Gegartes: »Sofort vom Herd zum Gast! Damit alle Säfte darin bleiben«, sagt er.So knackige Langustinen gibt es fast nirgendwo. Martin macht kreative Vorspeisen wie Rotbarbe mit einer Creme aus rohen Miesmuscheln. Ein Bad im Meer! Später wird er klassischer: King Crab mit Lauch und Kaviar. Petersfisch mit Sellerie und Trüffel. Martins Teller sind ansehnlich, aber keine Kunstwerke.

»Aussehen ist für Modeschauen. Für mich zählt der Geschmack«
David Martin, Spitzenkoch

Das tut er auch für Vincent Thomaes von der »Wine Bar des Marolles«. Keine Angeberflaschen auf der Karte, sondern unbekannte Weine zu tollen Preisen. Dazu Klassiker wie Niere in Senfrahm oder seligmachend sämiges Kalbshirn. Pochiert, paniert, in Butter gebacken. Apropos Butter: Die macht Thomaes selbst, nach einem Rezept der Großmutter. Wir lachen, als wir die Digestifkarte sehen, die mit den Worten »Wenn Sie Schwiegermutter vergessen wollen« überschrieben ist.
Was macht die Küche dieser Stadt aus, deren Klassiker Aal grün und frittierte Muscheln sind? »Gastlichkeit und Geselligkeit«, sagt Gastro-Autor René Sépul. Die »Bruxellois« interessierten sich für Essen, Märkte, Kochen, Ausgehen. Was sie von Franzosen unterscheidet? »Die wissen mehr über Produkte, benutzen aber viel Tiefgefrorenes. Bei uns sind achtzig Prozent frische Zutaten.« Wir essen mit Sépul in der Brasserie »Les Brigittines«. Altes Postgebäude, Holztäfelung, Jugendstillampen. Fast eine Puppenstube. Das Essen ist bodenständig. Wir verlieben uns in Schweinsfüße. Sie werden nur längs halbiert, knusprig gebacken und kommen mit Kapern und Cornichons. Göttlich. Wie die fünf Stunden in Gueuze geschmorte, auf der Zunge schmelzende Rinderbacke. Was Gueuze ist? Bier! Gereiftes Gueuze hat immense Geschmackstiefe; es erinnert sowohl an Wein als auch an Bier. Allein deswegen lohnt die Reise. 

Heimat der Bierkultur

Wir treffen Jean Cantillon, den Patron der gleichnamigen Brauerei, einen der Spitzenbrauer Belgiens. Die Herstellung im Zeitraffer: Maische aus Bio-Getreide. Die Würze wird mit Hallertau-Hopfen gekocht. Der ist volle drei Jahre gereift. »So verliert er seine Bitterkeit.« Der Most wird in einer Kupferwanne auf dem Dachboden abgekühlt. Die Spontanvergärung findet in 400-Liter-Holzfässern statt, in pièces und in alten Cognacfässern. »In unserem Most arbeiten hundert verschiedene Hefekulturen und Bakterienarten.« Nach bis zu vier Jahren ist das Lambic fertig. Es hat keine Kohlensäure und ist zuckerfrei. Es folgen der Verschnitt jüngerer Lambics mit älteren und die Abfüllung: »In der Flasche findet die champagnisation statt, die zweite Fermentation.« Am Ende hat man Gueuze. »Vor dreißig Jahren wollte niemand unser Bier. Dann hat mein Vater die Brauerei in ein offenes Museum umgewandelt.« Der Craft-Beer-Boom tat ein Weiteres. »Jetzt kommen Leute aus den USA wegen unseres Biers. Sie lassen sich unser Logo eintätowieren und nennen uns den Romanée-Conti des Biers. La folie pure!« Königsdisziplin sind die Fruchtbiere. Probieren Sie Kriek – mit Sauerkirschen. 
Carbonade, in Bier geschmortes Rind, gibt es auch bei Christophe Hardiquest vom »BonBon«. Es liegt in einer Villa in einem grünen Viertel, zwanzig Minuten vom Zentrum entfernt. Die Brigade poliert Edelstahlflächen und füllt Spritztüllen, als wir mit ihm sprechen. »Ich wollte schon mit Mitte zwanzig meine Träume leben. Ich fragte meine Frau: Wie viel haben wir gespart? Sie sagte: 2500 Euro.

Damit haben wir angefangen.« Hardiquest wälzte mit einer Historikerin alte Brüsseler Rezepte, bis zurück ins Jahr 1830. »Ich bin gegen die Globalisierung der Küche. Ich will kein Wagyu. Wir sind in Brüssel.« Und so verarbeiten die 23 Köche Sprotten, Rochen, Kaninchen. Sie tun das mit lautloser Präzision. Was bekommt der Esser, der sich wie zu Hause, »comme chez soi«, fühlt, in dem niedrigen Raum mit dunklem Holz, bequemen Sesseln und lustigen Schäfchen-Hockern für Handtaschen? Klare Aromen! Motto: Weg mit dem Handy, konzentriert euch aufs Essen. Nach hinreißenden St. Jacques mit Kren zwei Teller für die Ewigkeit: Bouchot-Muscheln in Gelee und Krabben-Ceviche mit Seeigeln. Nur Proust könnte sie angemessen beschreiben, also lassen wir es. Eine sublime Kombination beim Dessert: Schokolade und Steinpilz.

»Dass Hardiquest keine drei Sterne hat, liegt an der paternalistischen Attitüde des Michelin«, sagt René Sépul. »Für mich ist er ›un vrai génie‹.« Vielleicht hat das aber auch mit Brüssel selbst zu tun. »Leute wenden sich ab – wegen des Terrors, weil Brüssel für die EU steht«, sagt uns Spitzenkoch Pascal Devalkeneer vom »Le Chalet de la Forêt«. Er will sich mit personalisierter klassischer Küche Aufmerksamkeit erarbeiten. »Wir machen keine Gels. Wir sind modern im Geschmack.« Im lichten Speisesaal mit vielen Blautönen gibt es keinen Menü-Zwang; man kann altmodisch à la carte essen. Das Haus atmet Geschichte. »König Leopold hat es für seine Mätressen bauen lassen. Als wir anfingen, hatte die Küche einen Boden aus gestampfter Erde.« Der fröhliche Maître Hubert Van Strien und der rauschebärtige Sommelier Olivier De Joncker begleiten den Gast durch ein meisterliches Menü. Besonders gelungen: geflämmte Makrele mit eingelegtem Gemüse und Soja-Vinaigrette. Austerntatar mit Yuzu-Mousseline und Brokkoli. Und Bries mit einer 100-Punkte-Sauce: Kalbsjus, Hummerjus und Zitrusaromen. Pures Glück.

Vom Dessert knabbern wir nur; wir haben einen Termin mit Pierre Marcolini, dem wohl besten Chocolatier. Marcolini, ein schlanker Mann mit wuscheligem Haar, ist Monsieur 10.000 Volt. »Als kleiner Junge habe ich mein Feuerwehrauto gegen Schokolade getauscht. Alle dachten, ich spinne.«

Marcolini ist sehr selbstsicher. »Früher war das so in Brüssel – sagte einer: Ich mache was Neues, eine Praline mit Haselnüssen! Applaus! Sagt der nächste: Ich mache eine mit Mandeln! Mehr Applaus! Sagt der dritte: Ich mache eine mit Mandeln und Nüssen! Tosender Applaus! Da schlafen einem die Füße ein!« Marcolini begann mit dreißig Quadratmetern Verkaufsfläche; jetzt ist er bei 4000. Immer noch hundert Mal kleiner als Gigant »Godiva«.

Er mischte die Schokoladenwelt auf – mit kleineren Pralinen, mit Jasmin-Pralinen. Er hat sich der »Bean to bar«-Bewegung verschrieben. Er kaufe vierzig Bohnensorten beim Erzeuger ein, verarbeite sie selber und mache Vintage-Schoko-lade. »Mein Freund Joao Tavaers aus Bahia in Brasilien hat geweint vor Freude, als ich ihm die erste Tafel seiner Schokolade gab.« Warum Belgien überhaupt einen Ruf für Schokolade hat? »Das hat technische Gründe. In der Industrialisierung haben wir die ersten Geräte gebaut, mit denen man feine Schokolade machen konnte. Nichts Körniges mehr im Mund.«

Muscheln und Fritten

Wenn man von Marcolinis Geschäft am Grand Sablon durch die Stadt spaziert ist, den Königspalast umrundet, die Place Royale gesehen und sich ins Gedränge an der Grande Place gewagt hat, spürt man das Bedürfnis nach Abstand. Den kann man in der »Villa in the Sky« gewinnen. Im 25. Stock erwartet einen dann ein grandioses Panorama. 
Im verglasten Würfel auf dem Dach serviert Alexandre Dionisio leichte, gute Küche: King Crab mit Krabbengelee und Parmesanschaum oder frische Jakobsmuscheln mit sahnigem Topinambur. Ideal für ein spontanes Essen bei schönem Wetter. Und der obligatorische Geheimtipp? Das »Bouchéry« im Altbauviertel Uccle. Bohlen, Bistrotische mit Marmor, leiser Jazz. Der junge, bärtige Damien Bouchéry pflegt eine aufs Wesentliche reduzierte, gemüselastige, regionale Küche ohne Luxusprodukte. Gourmets alter Schule mögen meckern; Modernisten begeistern sich. Man bekommt viel fürs Geld: fünf Gänge, 68 Euro.

Unmöglich, Brüssel zu verlassen, ohne Pommes frites zu essen. Wir pilgern zur Nummer eins, wo sich auch Angela Merkel schon fettige Finger holte: »Maison Antoine« am Place Jourdan. Lange Schlange, ent-spannte Stimmung, Frittenfans im Frittenfachgespräch. Schichtleiter Dominique Bonnier erklärt: »Wir nehmen nur Kartoffeln aus Flandern, schneiden sie in nicht zu kleine Schnitze und backen sie in Rinderfett. Erst acht Minuten bei 125 Grad; nach dem Abkühlen drei Minuten bei 180 Grad. »Ich probiere unsere Fritten täglich. Eine ganze Portion gönne ich mir nur einmal die Woche. Die Gesundheit!« Die vergessen wir für einen Moment und sind im Frittenhimmel.

Aus dem Falstaff Magazin Nr. 03/2017

Christoph Teuner
Christoph Teuner
Redakteur
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