Wild at Heart: Bei Hirsch und Reh halten sich ­Sterneköche am liebsten an lokale Jäger.

Wild at Heart: Bei Hirsch und Reh halten sich ­Sterneköche am liebsten an lokale Jäger.
© Stocksy

Wirklich Wild?

Zuchtwild aus Neuseeland ist auf dem Siegeszug. Denn sein Fleisch schmeckt zart mit einem Hauch von Wildgeschmack. Das führt zur Frage: Ist Zuchtwild deshalb besser als »echtes« Wild?

»Wir vergleichen unser Wild mit Wagyu-Rind und Iberico-Schwein«, meint Innes Moffat von DeerNZ, dem Verband der neuseeländischen Wildzüchter. Ist er nur selbstsicher? Oder großmäulig? Spitzenkoch Andreas Döllerer aus Golling hält dagegen: »Neuseeland-Wild kommt oft gefroren. Es wird beim Braten breiig. Heimisches Wild ist viel besser.« Wer hat recht?
Zuchtwild aus Neuseeland gibt es seit 50 Jahren. 1500 Bauern produzieren 15.000 Tonnen Fleisch pro Jahr; 20 Prozent gehen nach Deutschland. Für den Erfolg verantwortlich sind auch PR-Manager. DeerNZ lädt zuhauf Journalisten ein, die »Neue Wild-Welt« zu besichtigen, Helikopterflüge inklusive. Und bewirbt das Produkt knallhart: Neuseeland-Wild lebe wie Wild in Europa – einziger Unterschied seien die Zäune. Es sei bei der Schlachtung jünger und deswegen zarter. Europäisches Wild werde auch in der Brunftzeit geschossen, wenn männliche Tiere vollgepumpt sind mit Hormonen. Neuseeland-Wild sei durch und durch ein Naturprodukt.

In Andreas Döllerers Kreationen kommt nur heimisches Wild. Hier: sein Rehherz.
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In Andreas Döllerers Kreationen kommt nur heimisches Wild. Hier: sein Rehherz.

Die Wahrheit sieht nicht ganz so aus. »Unsere Tiere stammen vom Europäischen Rothirsch ab«, erklärt Moffat. Auf Nachfrage räumt er ein: »Die Farmer wollen durch Zucht schnelleres Wachstum und mehr Gewicht erzielen.« Nicht nur das: Neuseeland macht 25 Millionen Euro Umsatz mit Basthörnern, die in China für traditionelle Medizin begehrt sind. So spielt bei der Zucht auch eine Rolle, wie schnell das Geweih wächst. Geschmack ist also nicht das einzige Kriterium.
Überhaupt Geschmack. Ist Rotwild da erste Wahl? Nein, ruft Torsten Reinwald vom Deutschen Jagdverband. »Hirsche sind wie Kühe. Sie weiden.« Moffat bestätigt: »Unsere Farmen bestehen wie Rinderfarmen aus Weideland.« Die Tiere fressen Gras; im Winter kriegen sie zusätzlich Chicorée oder Kohl. Europäische Rehe, die das Gros der geschossenen Tiere in Deutschland ausmachen, sind eine andere Art. »Rehe sind Feinschmecker«, erzählt uns der Jäger Günther Düsseldorf. »Sie lieben Löwenzahn, Spitzwegerich, Klee, Triebe und vor allem Eicheln und Bucheckern.« Darauf komme es an, sagt Döllerer. »Nur Wildpflanzen und viel Bewegung – das bringt den intensiven Geschmack und die feste Konsistenz.« Und wie sieht es aus in Sachen Bewegung bei den Kiwi-Hirschen? »Wegen der Zäune gibt es keine Raubtiere, vor denen sie fliehen müssen«, so Moffat. Ein Neuseeland-Hirsch hat statistisch 0,25 Hektar Land für sich, ein Iberico-Schwein von Joselito vergleichsweise drei Hektar. Und was ist mit Krankheiten? »Wenn ein Tier Antibiotika braucht, kommt der Tierarzt.«

Neuseeland macht 25 Millionen Euro Umsatz mit Bast­hörnern, die in China für traditionelle Medizin begehrt sind.

DeerNZ betont, Neuseeland-Wild werde meist im Alter von einem Jahr geschlachtet. Das Fleisch junger Tiere sei zarter und schmecke besser. Der versteckte Vorwurf dahinter: Europäisches Wild sei alt und zäh. Reinwald widerspricht: »In der Jagd gilt: jung vor alt.« Der Abschuss von noch nicht fortpflanzungsfähigen Tieren sei wildbiologisch sinnvoll; schließlich müssten Jäger Bestände reduzieren. Und was ist mit Igitt-Fleisch von brünftigen Böcken? Reinwald lacht. »Brunftzeit ist Ende September, Anfang Oktober. Hauptjagdzeit ist aber November bis Januar.«

Hirsche sind Weidetiere – im Sommer fressen sie Gras, im Winter zusätzlich Gemüse wie zum Beispiel Kohl.
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Hirsche sind Weidetiere – im Sommer fressen sie Gras, im Winter zusätzlich Gemüse wie zum Beispiel Kohl.

Die Neuseeländer sind zu Recht stolz auf ihre modernen Schlachthöfe. Aber schlachten heißt: Hirsche werden zusammengetrieben, verladen, transportiert. Die Folgen beschreibt Dr. Ken Drew vom Invermay Agricultural Center: »Stehen Tiere unter Stress, kann das bewirken, dass Glykogen im Körper verbrannt wird. Post mortem wird dadurch in den Muskeln weniger Milchsäure produziert. Ergebnis ist ein hoher pH-Wert.« Das bedeutet zähes Fleisch, keine schöne Farbe. Die Industrie hat ein Mittel dagegen gefunden. Nach dem Bolzenschuss wird Strom durch die Hirsche gejagt. Ken Jepsen beschreibt das in einer Reportage so: »Fast sieht es so aus, als wolle der Arbeiter mit seiner blutverschmierten Schürze die Hirsche reanimieren. An Kopf und Schwanz bringt er Stromkabel an, kurz darauf lassen 1000 Volt starke Stromstöße den Körper zucken.« So wird der pH-Wert gesenkt, und der Farmer ist glücklich.
Auch heimisches Wild kann unter Stress stehen. »Wenn ein Reh in eine Treibjagd gerät und erst geschossen wird, wenn es ausgepumpt ist, hat man wässeriges, schlechtes Fleisch«, sagt Jäger Düsseldorf. Außerdem gebe es bei Treibjagden viele unsaubere Schüsse. »Ein Pansenschuss ist eine Katastrophe; dann kannst du das Reh in den Mülleimer schmeißen.« Er selber schieße nur vom Hochsitz. Alteingesessene Wildhändler wie Markus Erhardt oder Joachim Baumann aus dem Rheinland akzeptieren kein Wild aus Treibjagden und sagen: »Wild kaufen ist Vertrauenssache.« Laut Jagdverband werden rund drei Viertel der Rehe und Böcke hierzu­lande vom Hochsitz geschossen; sie sterben einen stressfreien Tod.

Rehkeule von Jan Maier und Tobias Becker im Restaurant »Maibeck«.
© Danny Frede
Rehkeule von Jan Maier und Tobias Becker im Restaurant »Maibeck«.

Die meisten Jäger geben die erlegten Tiere bei Händlern oder Restaurants ab, die sich, amtlich streng kontrolliert, um Zerlegen und Reifung kümmern. Die wiederum ist Stoff für Schauergeschichten. Wir springen ins Frankreich Brillat-Savarins. Über den schrieb ein Zeitgenosse: »Er ist ein liebenswerter Mann, belästigt andere aber durch den Geruch des Wildbrets, das er in der Jackentasche trägt.« Die Franzosen nennen das Mortification oder »faisandage«. Man ließ Wild wochenlang reifen, bis es fast verrottet war. Das ist heute unüblich. Bei der Reifung gibt es aber einen fundamentalen Unterschied: In Europa lässt man das ausgenommene, nicht ausgeblutete Wild im Fell hängen – etwa fünf Tage bei fünf Grad.
Professor Thomas Vilgis, der am Max-Planck-Institut Mainz im Fach Molekulare Lebensmittelwissenschaften forscht, erklärt: »Durch den höheren Blutanteil bleiben mehr Zucker und Aminosäuren in den Muskeln. Das sorgt für unterschiedliche Aromabildung.« Im Klartext: Erst dadurch kommt intensiv fleischiger Geschmack zustande. »Gleichzeitig sind in dem Blut mehr Enzyme, die Muskeln und Kollagen spalten, was das Fleisch zart macht.« Die Neuseeländer lassen die Tiere ausbluten, lösen das Fleisch sofort aus und vakuumieren es. Auf null Grad gekühlt, halte es sich drei Monate. Dadurch reift es langsamer, wenn überhaupt. 80 Prozent des Wildes aus Neuseeland werden noch im Schlachthof eingefroren. Begründung: »Europäer essen Wild im Herbst. Wir produzieren aber das ganze Jahr.«

Rund drei Viertel der Rehe und Böcke werden vom Hochsitz aus geschossen. Das erspart den Tieren Stress.
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Rund drei Viertel der Rehe und Böcke werden vom Hochsitz aus geschossen. Das erspart den Tieren Stress.

Brutal global, brutal lokal

Szenenwechsel. Im Kölner Restaurant Maibeck treffen wir die Sterneköche Jan Maier und Tobias Becker zum Testessen. Auf dem Tisch: die Rücken von einem 70-Kilo-Hirsch aus Neuseeland und einem 15-Kilo-Reh aus der Eifel, beide sowohl frisch als auch aufgetaut. Kilopreis: 41 respektive 79 Euro. Unterschiede zeigen sich schon beim rohen Fleisch. »Der frische Hirsch riecht nach Metall und Blut«, sagt Maier. »Der aufgetaute Hirsch fühlt sich an wie ein Lappen; den will man gar nicht anfassen.« Becker freut sich derweil über das mattglänzende heimische Reh: »Es duftet nach Wald und hat eine klare Faser.« Während das Fleisch brät, räsonieren beide über das Einfrieren. Beim Auftauen würden Zellen platzen, das Fleisch verliere Flüssigkeit. »Mehr Schmerz kann man einem toten Tier nicht zufügen.«
Beide Stücke Neuseeland-Hirsch sind nach dem Braten recht weich; überraschenderweise hat der gefrorene einen etwas schöneren Biss. Das Gesamturteil fällt zurückhaltend aus: »Kein schlechtes Fleisch, es ist saftig und schmeckt ein wenig nach Leber. Könnte aber auch Strauß sein. Das ist systemgastronomietaugliche Ware.« Testsieger wird das frische Reh: »Es schmeckt wunderbar dezent wildig. Und macht Geräusche beim Kauen!« Platz zwei teilen sich gefrorenes Reh und gefrorener Hirsch; das frische Fleisch aus Neuseeland landet auf dem letzten Platz.

Die Moral von der Geschicht’? Neuseeland-Wild ist ein anständiges Produkt von halb domestizierten Tieren, hat keine Kanten und kommt überall gut an.

Brutal global, wenn man so will. Heimisches Wild ist brutal lokal. Christopher Wilbrand vom Sternerestaurant »Zur Post« in Odenthal beschreibt das so: »Das Wild lebt bei uns vor der Tür. Ich kann am Geruch des Fleischs erkennen, ob ein Reh von hier ist.« Und nennt schmunzelnd noch einen Vorteil: »Ich zahle 100 Euro für ein Reh, wenn ich es vom Jäger bekomme. Da macht das Kalkulieren Spaß.«

Erschienen in
Falstaff Nr. 07/2017

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Christoph Teuner
Christoph Teuner
Redakteur
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