Verkostung: Ortsriesling 2014 aus Rheinhessen

Routiniers und junge Talente triumphieren, ausgezeichneter »Villages«-Charakter der Weine.

Erik Riffel greift in die entlaubte Zone eines Rebstocks und lässt ein goldgelbes, locker mit Beeren besetztes Träubchen durch seine Finger gleiten. Es ist Mitte September 2015, ein strahlend blauer Himmel macht die Ebene weit, die sich vom Binger Scharlachberg nach Süden hin ausstreckt. Beste Aussichten für eine Lese vollreifer, kerngesunder Trauben. »Es könnte endlich mal wieder ein einigermaßen entspannter Herbst werden«, sagt Riffel nachdenklich. Und macht eine Geste, als wolle er sagen: Verschreien wir’s besser nicht.

Wettlauf gegen die Zeit
Denn schon der Jahrgang 2013 war nicht leicht, und an den Jahrgang 2014 denkt Riffel mit einer Mischung aus Schaudern und Faszination zurück. Es war alles zusammengekommen: Mehltau, Sauerwurm, Regen, Regen und nochmals Regen, Wespenfraß und schließlich auch noch die Kirschessigfliege. »Während der Lese habe ich bis eins in der Nacht gearbeitet, wie in Trance. Und um vier war ich wieder auf den Beinen.« Aber auch die drei Stunden Ruhezeit waren nicht erholsam. In einem fiebrigen Halbschlaf kreisten Riffels Gedanken um nichts anderes als die Arbeitsabläufe des nächsten Tages. Was zuerst holen? Wo standen die meisten Trauben im Feuer? Der Belegungsplan für Tanks und Presse, der Einsatzplan für die Lesemannschaft – es war ein einziger Wettlauf gegen die Zeit, wie ein Tetris-Spiel, bei dem schon der kleinste Fehler dazu führen kann, dass man noch schneller und noch schneller reagieren muss, bis irgendwann gar nichts mehr geht. Riffel hat den Jahrgang schließlich gemeistert – mit Bravour sogar, wie sein Binger Ortswein beweist, der im Falstaff-Test weit vorn landete. »Als die letzten Trauben im Keller waren, habe ich erst einmal ausgeschlafen: die Nacht durch, den Tag über und dann auch noch die zweite Nacht.«

Bildergalerie: Best of Ortsriesling

Man unterschätzt zuweilen den Aufwand und den persönlichen Einsatz, den Winzer für ihre Weine bringen. Selbst für den »Ortswein«, also die mittlere Qualitätsstufe unterhalb der Lagenweine – für jenen häufig um die zehn Euro kostenden Weintyp, den Falstaff jetzt in Rheinhessen verkostet hat –, werkeln und schleifen die Besten unter ihnen mit immensem Fleiß an Kleinigkeiten.

Bio-Pionier der ersten Stunde: Hans Müller vom Weingut Brüder Dr. Becker. / Foto beigestellt
Bio-Pionier der ersten Stunde: Hans Müller vom Weingut Brüder Dr. Becker. / Foto beigestellt

Die Biowein-Szene
Lotte Pfeffer-Müller und ihr Ehemann Hans Müller gehören zu den Urgesteinen
der deutschen Biowein-Szene. Mitte der 1980er-Jahre wurden die beiden zu Mitbegründern des Verbands Ecovin. Lange bevor Bioweinbau chic wurde, gehörten sie zu den ersten VDP-Mitgliedern, die zeigten, dass Bio und qualitativer Anspruch keine Gegensätze sind. Zu welchem Grad der Verfeinerung ihre Weine inzwischen gelangt sind, offenbarte die Falstaff-Blindprobe ihres 2014er Dienheimer Ortsrieslings: eines komplex würzigen Weins, der Struktur und Geschmeidigkeit vereint. »Handlese mit extremer Selektion«, gibt Lotte Pfeffer zu Protokoll. Um dann mit erstaunlichen Details der Weinbereitung fortzusetzen: »Wir arbeiten mittlerweile ja sogar biodynamisch und sind seit 2008 Demeter-Mitglieder, aber wir schätzen es dennoch nicht, wenn unsere Weine im Übermaß nach Spontangärung riechen.«

Aufwendige Vergärungsweise
Daher wählen Pfeffer und Müller eine aufwendige Vergärungsweise: Sie lassen den ersten Rieslingmost des Jahres – meist den Gutsriesling – spontan angären und entnehmen diesem Most einen Hefeansatz, sobald die Gärung in Schwung gekommen ist. Mit diesem Ansteller werden dann die Moste der höherwertigen Weine beimpft. Ein Mittelweg zwischen der kommerziellen Glätte mancher Reinzuchthefen und fundamentalistischem Spontangärungskult. Beim Ortsriesling trägt noch eine weitere Maßnahme zur Struktur bei: Zwei bis drei Prozent der Trauben entbeeren Familie und Mitarbeiter aufwendig von Hand, um die ganzen Beeren in den gärenden Most zu geben: So erfährt der Extrakt des Weins gerade in eher leichtgewichtigen Jahren wie 2014 eine höchst willkommene Verstärkung.

Der Rote Hang
Die Idee des »Ortsweins« ist ja eigentlich dieselbe, die auch der »Villages«-Bezeichnung im Burgund zugrunde liegt. Der Wein, der beispielsweise unter dem Ortsnamen »Vosne-Romanée« etikettiert ist, wächst in der Nachbarschaft von Grand-Cru-Lagen wie Richebourg, Échezeaux oder La Tâche. Er zeigt zwar nicht deren zugespitzten Lagencharakter, aber kostet auch viel weniger – vor allem aber lässt er sich deutlich vom Wein der Nachbargemeinden unterscheiden. Das funktioniert auch in Rheinhessen: Im höchstbewerteten Drittel unserer Probe ist beispielsweise der Rote Hang prominent vertreten – mit Niersteiner, Nackenheimer und Oppenheimer Ortsweinen, die die mineralische Würze des Rotliegenden ins Glas bringen.

Woher die Ortsweine aus Rheinhessen kommen und wie die rheinhessische Weinprinzessin am heimischen Weingut St. Nikolaushof in Gau Algesheim mit anpackt – die ganze Geschichte lesen Sie im aktuellen Magazin!

Zum Tasting »Rheinhessen: Ein gut gemeistertes Jahr«.

1. Weingut Riffel; 2. Weingut St. Nikolaushof; 3. Bernd Landgraf; 4. Weingut Kühling-Gillot; 5. Louis Guntrum ; 6. Dr. Becker; 7. Weingut Geil; 8. Weingut Wechsler; 9. Weingut Alexander Gysler / © Illustration Artur Bodenstein
1. Weingut Riffel; 2. Weingut St. Nikolaushof; 3. Bernd Landgraf; 4. Weingut Kühling-Gillot; 5. Louis Guntrum ; 6. Dr. Becker; 7. Weingut Geil; 8. Weingut Wechsler; 9. Weingut Alexander Gysler / © Illustration Artur Bodenstein

Text von Ulrich Sautter
Aus Falstaff Deutschland 08/15

Ulrich Sautter
Ulrich Sautter
Wein-Chefredakteur Deutschland
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