Blick auf Oppenheim mit seiner Katharinenkirche, deren Bau im Jahr 1226 begonnen wurde.

Blick auf Oppenheim mit seiner Katharinenkirche, deren Bau im Jahr 1226 begonnen wurde.
© Mauritius Images

Update: Weinbauregion Rheinhessen

Deutschlands größtes Anbaugebiet war einstmals für Süße und für Tiefstpreise bekannt. Heute ist vielleicht nicht alles, aber doch vieles anders.

In einem »Wein-Katalog« aus dem Jahr 1974, einer Art internationalem Weinführer aus den Anfängen des deutschen Weinjournalismus, stellt der Autor Heinz-Gert Woschek unter anderem auch Weine aus Rheinhessen vor, die von der Verkostungskommission des Buchs als empfehlenswert begutachtet wurden. Unter ihnen findet man Kuriositäten wie eine Faber-Spätlese aus dem Nackenheimer Rothenberg oder einen Wormser Liebfrauenmorgen als Silvaner, Müller-Thurgau und Morio-Muskat Kabinett. Unter den 15 Weinen der Rheinhessen-Auswahl ist kein einziger trockener. Selbstredend hat sich zwischen Bingen und Worms seither einiges getan. Nicht zuletzt gehört die Begeisterung für Neuzüchtungen wie Faber oder Morio-Muskat eindeutig der Vergangenheit an – weitgehend.

Alles trocken

Doch was für ein Wein hat sich weit vorn platziert in der Verkostung, die Falstaff für dieses Rheinhessen-Update durchführte? Eine Scheurebe-Auslese aus dem Westhofener Morstein. Ihr Erzeuger Florian Fauth vom Weingut Seehof Fauth aus Westhofen muss herzlich lachen, als er gefragt wird, ob sich vielleicht doch nicht so viel geändert habe seit den Siebzigerjahren. »Doch, doch«, so seine Antwort, »auch bei uns im Betrieb sind heute 90 Prozent der Weine trocken.« Weiter verweist er darauf, dass auch der Ertrag der Morstein-Scheurebe überwiegend trocken ausgebaut werde. »Aber das sind alte Reben, 40 Jahre stehen die schon in einer so tollen Lage, da versuchen wir natürlich immer, auch ein bisschen was für ein edelsüßes Prädikat zu lesen, und 2018 hat das prima funktioniert.« Das meiste von solchen Raritäten gehe allerdings ins Ausland, in Deutschland selbst funktioniere die süße Scheurebe nur in der Gastronomie, sagt Fauth, im glasweisen Ausschank. »Der Preis mit 12,90 Euro ist natürlich Wahnsinn für diese Qualität, aber wir lassen das so, denn dieser Wein hat uns schon manche Tür geöffnet.« Auch Eckehart Gröhl hat im Falstaff-Test mit einem edelsüßen Wein gepunktet, und wie! Seine Riesling-Trockenbeerenauslese aus der Niersteiner Spitzenlage Pettenthal packt einen fulminanten Spannungsbogen aus, und als Dreingabe die lagentypische Mineralwürze – Rote-Hang-Klassik vom Feinsten. Also ist Rheinhessen doch edelsüß am besten? »Zu 98 Prozent ist bei uns im Keller alles trocken«, klingt Eckehart Gröhl fast identisch wie Florian Fauth. »Aber wenn’s die Natur hergibt, machen wir natürlich gerne was Edelsüßes. Man muss ja über Tage hinweg immer wieder mit der ganzen Lesemannschaft durch den Weinberg zum Rosinenpicken, das kriegt man auf einen Rutsch ja gar nicht hin. Aber in 2018 hat das super geklappt, weil die überreifen Beeren nach und nach schön eingetrocknet sind. Nur: Es ist halt ein Naturprodukt, erzwingen kann man das nicht.«

Reflexion

Das ist vielleicht die typischste Botschaft des neuen Rheinhessen: Nichts muss. Die Winzer lassen den Böden und Trauben viel stärker ihren Willen als früher. Und stellen neue Fragen, um nach neuen Antworten zu suchen. So sitzt Johannes Hasselbach, gerade eben nominiert zum Falstaff Winzer des Jahres, am 150 Jahre alten Holztisch im Probenraum des Weinguts Gunderloch und erinnert sich an das Jahr 2012, als die Entscheidung gefallen war, dass er ins Weingut seiner Eltern eintreten wird, um es dann zu übernehmen: »Natürlich war unser Ruf ausgezeichnet, aber ich hatte trotzdem das Gefühl, dass ich unsere Lagen komplett neu kennenlernen muss, dass ich noch mal komplett neu mit einem leeren weißen Blatt Papier anfangen muss.«

Hasselbach begann Trauben zu tauschen: mit seiner Schwester, die ins Langenloiser Weingut Jurtschitsch eingeheiratet hatte, und mit Max von Kunow von der Saar. In 2012, 2013 und 2014 hatte jeder der drei Betriebe neben eigenen Rieslingtrauben auch jeweils 500 Kilo Trauben der anderen zwei Betriebe zum Keltern. So konnte Johannes Hasselbach sehen, wie Scharzhofberger Riesling und Zöbinger Heiligenstein schmecken, wenn sie in seinem Keller vergären. Und ebenso, wie ein Nackenheimer Rothenberg schmeckt, wenn er im Kamp­taler Keller der Jurtschitschs vergoren wurde oder in Oberemmel an der Saar. »Das hat mir die Augen dafür geöffnet, wie wichtig das Kellerklima mit seiner Mikroflora für den Wein ist«, sagt Hasselbach acht Jahre nach dem Beginn des Experiments. »Und es hat unsere Entscheidung wesentlich beeinflusst, einen geplanten neuen Keller nicht draußen vor den Ort aufs flache Land zu bauen, sondern, sehr viel mühsamer und kostspieliger, mitten in Nackenheim, als Erweiterung direkt neben unserem Gutshaus.«

Kollegialität

Ein anderes, aber ebenso vom kollegialen Miteinander zeugendes Projekt haben die Brüder Runkel vom Binger Weingut Bischel und Daniel Wagner vom Weingut Wagner-Stempel aus Siefersheim aufs Gleis gesetzt. Christian Runkel erzählt: »Mit Daniel Wagner war ich schon immer freundschaftlich verbunden. Irgendwann kam Daniel auf uns zu und sagte, er hätte eigentlich mal Lust, Trauben von einem Terroir zu keltern, das er noch nicht kennt. Also etwa vom Kalkstein wie im Appenheimer Hundertgulden oder vom roten Quarzit wie im Scharlachberg. Da kam uns die Idee, uns gegenseitig im Austausch Flächen zu verpachten, und so bewirtschaftet er jetzt ein Stück bei uns im Scharlachberg und wir eine Parzelle bei ihm in Siefersheim in der Heerkretz. Für uns ist es absolut spannend, was im Porphyr zu haben.« Und Runkel fährt fort: »Unsere Freundschaft hat das jetzt sogar vertieft, der Tausch bringt uns beide weiter. Und, was man auch nicht vergessen darf: Wir können beide die Weinbergsarbeit fast vom Start weg ideal machen, weil wir von der Erfahrung des anderen profitieren. Sonst, wenn man als Winzer eine neue Lage kriegt, muss man sich ja erst über Jahre hinweg einarbeiten.«

Ingelheim

Keine Frage: Die Jugend krempelt Rheinhessen um. Das gilt sogar – und in besonderem Maße – auch in bislang schlafenden Schönheiten wie etwa in Ingelheim. »Wir haben noch Weinkarten aus den Fünfzigerjahren«, sagt Lewis Schmitt vom Weingut J. Neus, »da stand der Oberingelheimer in berühmten Häusern aufgrund seiner, so wörtlich, feurigen Würze auf der Karte.« Dann wurde es drei, vier Jahrzehnte lang ruhig um Rheinhessens besten Spätburgunder, sehr ruhig sogar. Die Kalkbänke unter den Weinbergen waren zwar immer noch dieselben, aber erst eine neue Generation von Winzern schaffte es wieder, ihnen Weine von Exzellenz zu entlocken.

Selbst auf dem Weingut Neus, dessen Weine früher in die ganze Welt exportiert wurden und dessen Spätburgunder-Expertise so groß war, dass man sogar einen eigenen Klon selektiert hatte, gab es Jahrzehnte des Stillstands. Erst als die Unternehmerfamilie Schmitz aus Mainz den Traditionsbetrieb im Jahr 2012 erwarb, begann eine neue Zeit. Gemeinsam mit dem jungen, von der Ahr stammenden Betriebsleiter Lewis Schmitt begann der Umbau: »Früher war dieser überreife konservative Rotweinstil in Ingelheim gang und gäbe, es ging nur um hohe Mostgewichte. Aber heute lesen wir nach Säure. Und«, freut sich Schmitt, »es gibt jetzt auch Kollegen, die stilistisch in eine ähnliche Richtung gehen, Carsten Saalwächter etwa oder Simone Adams, es macht einfach Spaß, sich durch deren Kollektion zu probieren.« Und so ist es nicht nur in Ingelheim, sondern bewundernswerterweise praktisch überall im frischen, neuen Rheinhessen.

Erschienen in
Falstaff Nr. 02/2020

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Ulrich Sautter
Ulrich Sautter
Wein-Chefredakteur Deutschland
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