© Gina Müller

Salzburger Festspiele: Vom Feiern und Essen

Zu einem Fest braucht es mehr als gutes Essen und feine Weine. Vor allem Menschen, die einander ihre Zeit und ihre Intelligenz schenken. Dann aber kann ein unvergessliches Ereignis draus werden.

Ich bin ein bekennender Anhänger des Alltags, den zu achten, zu ehren und zu gestalten für mich schon fast eine religiöse Übung darstellt, zu der ich sonst nur wenig begabt bin. Wer den Alltag bloß erträgt, indem er darauf wartet, ihm am nächsten Wochenende, im kommenden Sommer, in den Jahren nach der Pensionierung zu entrinnen, dem vergeht darüber die Zeit, die auf Erden ihm gewährt ist. Vielleicht ist es diese Würdigung des alltäglichen Glücks, die mich für das Fest, die Feier so empfänglich macht. Denn in Fest und Feier wird zwar die Überschreitung des Alltäglichen, seine Entgrenzung zelebriert, aber nicht als dessen simple Verneinung.

Wer einzig sonntags fromm ist, der ist es gar nicht; für ein Fest der Musik taugt nur der, in dessen Leben die Musik immer ihren Platz hat, und für das kulinarische Fest ist gänzlich ungeeignet, wer sich die Woche über hastig und achtlos Nahrung zuführt, weil sein Körper ihrer eben bedarf. Wer den bissigen Veltliner verachtet, ist den Champagner nicht wert. Das zu behaupten, heißt nicht, sich arrogant über soziale Gegebenheiten zu erheben, die es den meisten Menschen erschweren, sich alle Tage daran zu erinnern, dass sie Ansprüche ans Leben zu stellen haben. 

Zum Fest braucht es Menschen

Gut essen kann man auch alleine, aber ein Fest wird so nicht draus. Zum Fest braucht es nicht unbedingt Gerichte, die auf die raffinierteste Weise zubereitet werden, nicht einmal den besonderen Wein, obwohl dieser auch nicht direkt stört, wenn er kredenzt wird. Nein, zum Fest braucht man vor allem Menschen, mit denen man tafeln und trinken, sich ernst und ausgelassen unterhalten kann, und man muss sich darauf verlassen können, dass sie alle sich fürs Tafeln und Trinken, Reden und Dagegenreden Zeit nehmen werden.

Unvergesslich bleiben daher kulinarische Feste nicht nur, wenn die Speisen und Getränke selbst die Sensation waren, sondern auch, wenn sich für die Dauer des Festes eine Gruppe gebildet hat, mit der es einem um die gemeinsam verbrachte Zeit nicht schade zu sein braucht. Kaum ein Festessen ist mir so innig in Erinnerung geblieben wie jenes eine, bei dem ich in der Hauptstadt eines Landes am Mittelmeer mit gänzlich unerwarteten Anforderungen fertigzuwerden hatte. 

Am Ende eines literarischen Colloquiums, das Gelehrte und Autoren vieler Länder zusammengeführt hatte, wurde zu einem opulenten Diner geladen. Die lange Tafel war mit dicken weißen Tischdecken drapiert, altes Porzellan und geschliffene Gläser standen bereit, und kaum dass ich den für mich vorgesehenen Platz gefunden hatte, ging die Tür auf und alle verstummten: Hereingetragen wurde auf ­einem riesigen Tablett ein ganzes, der Länge nach hingebreitet liegendes Lamm, dessen krustig gebratene Haut, über Stunden immer wieder mit Fett übergossen, rotbraun glänzte, und das aus stumpfen Augen auf die Gesellschaft schaute, die es gleich verzehren würde.

Dem Vorsitzenden des Colloquiums war es vorbehalten, das Tier zu zerlegen, und bevor er mit Messer und Schere zur Tat schritt, beugte er sich vorsichtig, als wolle er ihn ­tätscheln, über den Kopf des Tieres, näherte seine Finger dessen rechtem Auge, griff zu und drehte es sachte aus seiner Höhle heraus. Ich sah es mit Entsetzen und in der ­panischen Vorahnung, was geschehen werde: dass nämlich die höchste Ehre des Gastes ausgerechnet mir erwiesen wurde, indem der Vorsitzende das Auge auf meinen Teller legte. So viel war klar, ich würde es verzehren müssen, da gab es kein Entrinnen.

Nachdem ich so lange gezögert hatte, bis länger zu zögern eine Verstimmung würde hervorgerufen haben, nahm ich das glanzlos blickende Auge zwischen Daumen und Zeigefinger und führte es zum Mund; es war viel zu groß, um auf einen Sitz hinunterzurutschen, ich musste beißen, in eine glibbrige Masse, die aber von fester Konsistenz war, ich schob sie im Mund hin und her, bis ich sie zwischen die richtigen Zähne gebracht hatte, zerbiss und hinunterwürgte. 

Kaum war das geschehen, erhob die Runde die Gläser, auf den Vorsitzenden, der das Lamm zerlegt, auf mich, der dessen Auge verzehrt, auf die verbindende Kraft der Kultur, die sich während der Tagung und dem abschließenden Fest erwiesen hatte. Und dass es sich um ein echtes Fest handelte, ­begriff ich bereits an Ort und Stelle. Denn die staunenden Gäste aus dem Norden und Westen haben sich mittels der kulinarischen Inszenierung mit ihren fürsorglichen Gast­gebern aus dem Südosten verbunden. Und ich? Ich konnte stolz sein auf mich, wiewohl das Auge noch heute in meinem vegetativen Gedächtnis rumort.


Karl-Markus Gauss

Österreichischer Schriftsteller, Literaturkritiker, Herausgeber, Essayist. Er schreibt auch Essays, Kommentare und Notizen zum aktuellen Zeitgeschehen und zu Themen »am Rande Europas«.

Erschienen in
Falstaff Nr. 05/2021

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