Bieten ihren Kunden jetzt eine eigene »Klassiker«-Liste mit reifen Weinen an: Eva und Hajo Becker.

Bieten ihren Kunden jetzt eine eigene »Klassiker«-Liste mit reifen Weinen an: Eva und Hajo Becker.
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Reife Rieslinge

Immer nur den jüngsten Riesling-Jahrgang im Glas? Geht gar nicht, finden Deutschlands Winzer wie etwa Hajo Becker. Und demonstrieren mit ihren Weinen im Falstaff-Test, was einem alles entgeht, wenn man den Flaschen zu früh den Korken zieht.

Es ist ein besonderes Flair, das gereifte Weine umgibt. Schon die Kellerpatina einer alten Flasche zieht die Aufmerksamkeit auf sich: mit ihren Spuren von Zeit und Feuchtigkeit und mit Etiketten, deren graphische Gestaltung einen in ein anderes Jahrzehnt versetzt. Fließt der Wein schließlich golden und ölig ins Glas, steigt die Spannung: Kann man die kräftige Farbe als Hinweis auf überströmende Würze und auf reife Fülle deuten? Oder erweist sich das Goldgelb als Vorbote der Oxidation? 
Bei der Falstaff-Verkostung mit deutschen Rieslingen aus den Jahrgängen zwischen 1976 und 2011 erlebte die Jury 61 dieser spannenden Augenblicke – in der bei weitem größeren Zahl der Fälle mit positivem Ausgang. Nicht wenige Weine erweckten sogar den Eindruck, noch Lagerpotenzial für weitere Jahre zu besitzen.
Die Nachricht, dass es sich lohnt, Riesling wegzulegen, ist nicht neu. Doch lange Zeit wurde sie nicht gehört. »Abstrus«, sagt Nik Weis, dessen Weine vom Sankt Urbans-Hof in der Falstaff-Probe besonders geglänzt haben. »Ich kann nur immer wieder fragen: Wie ist das denn beim Bordeaux? Trinkt man den auch sofort nach der Auslieferung? Steht bei den Leuten jetzt etwa der 2014er Pétrus auf dem Küchentisch?«

Mosel muss genauso reifen wie Bordeaux – dafür legt Nik Weis in Rebberg und Keller die Grundlagen.
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Mosel muss genauso reifen wie Bordeaux – dafür legt Nik Weis in Rebberg und Keller die Grundlagen.

Natürlich nicht. Mosel, fährt Weis fort, sei wie Bordeaux, er müsse unbedingt reifen. Die Parallele gehe übrigens weiter, als man im ersten Moment glaubt: Während sich beim Rotwein im Lauf der Flaschenreife immer längere, milder schmeckende Ketten von Gerbstoff-Molekülen bilden, passiert beim Mosel etwas Ähnliches mit dem Zucker. Auch hier werden die Moleküle »polymerisiert«: verbinden sich im Lauf der Reife miteinander. Danach schmeckt der Wein weniger süß, obwohl analytisch noch dieselbe Menge Zucker vorhanden ist. An die Stelle der Süße trete, so Weis, ein »Geschmackseindruck irgendwo zwischen cremig und umami, der ganz schwer zu beschreiben ist«.
Wer öfters reife Spät- oder Auslesen trinkt, weiß genau, was gemeint ist. Beispielhaft liefert Weis’ 2002er-Spätlese aus der Leiwener Lage Laurentiuslay ein solches Geschmacksbild: mild, aber nicht süßlich, mit einer faszinierenden Frische, die sich aus Riesling-Säure und Schiefer-Mineralität zusammensetzt. 
Als weiteren wichtigen Faktor für das Reifepotenzial nennt Weis das Zusammenspiel von Jahrgang und Lage: »Die Laurentiuslay ist mein wärmster Weinberg, und sie ist zugleich trocken – in einem eher kühlen Jahr wie 2002 war das ideal. Zudem heißt die Gemarkung, von der die Trauben kommen, mit gutem Grund Bläsberg. Dort ist es immer windig, sodass die Trauben lange gesund bleiben und eine dicke Schale bekommen.«

Das Zusammenwirken von Jahrgang und Lage ist noch wesentlicher, möchte man einen trockenen Wein mit Reifepotenzial keltern. »Der perfekte Jahrgang für einen Weintyp, das ist der Königsweg zum gut gereiften Wein«, sagt Philipp Kuhn, dessen 2009er Großes Gewächs aus dem Großkarlbacher Burgweg im Falstaff-Test noch immer jung wirkte. »2009 war ein perfektes Jahr, heiß und sogar hitzig, aber die Bodenversorgung war dennoch optimal, im Burgweg konnten die Reben durchziehen ohne Trockenstress. Denn der Kalk im Boden wirkt als Wasserspeicher. Das war damals bei der Lese ein Schaulaufen der Natur. Wenn nochmal so ein Jahrgang kommt, nehm’ ich ihn sofort.« Kuhn bemerkt außerdem in den letzten Jahren, dass das Interesse an reifen Weinen steigt. »Zuerst im Ausland, jetzt aber auch im Inland.« 

Bacharacher Lage Hahn: die Herkunft lange reifender Rieslinge, trocken, fruchtig und edelsüß.
© Axel Gross
Bacharacher Lage Hahn: die Herkunft lange reifender Rieslinge, trocken, fruchtig und edelsüß.

Tropfen für die Zukunft

Schon seit mehr als dreißig Jahren ist Hajo Becker in Walluf im Rheingau ein Missionar des gereiften Rieslings. »Wir haben es früher aber nicht so rausgestellt«, sagt Eva Becker, die ihrem Ehemann nun in Sachen Marketing zur Hand geht. Als erste Neuerung gibt es auf dem für seinen traditionsbewussten Weinstil bekannten Weingut nun eine eigene »Klassiker«-Preisliste – mit fast fünfzig Positionen aus den Jahren 2006 bis 1971. Die trockene Auslese des Jahrgangs 2007, die bei der Verkostung des Falstaff-Teams begeisterte, gehört für Becker noch zu den jungen Weinen – und das stimmt ja irgendwie auch, denn das Mindeste, das man von diesem geballt kraftvollen und dennoch Riesling-typischen Wein erwarten kann, ist, dass er das momentane Niveau die nächsten zehn Jahre halten wird, oder länger. »2007 war für mich auch im Keller ein interessanter Jahrgang, denn damals habe ich aufgehört, mit Reinzuchthefen zu vergären«, erzählt Becker, »seit 2003 verwende ich keine Botrytizide, und 2007 waren die Weinberge dann so weit, dass ich der spontanen Hefeflora vertraut habe. Trotz seines Auslese-Mostgewichts hat der Wein problemlos durchgegoren. Dabei war es ursprünglich die Gastronomie, die die Idee der trockenen Auslese an mich herangetragen hat: Kannst du uns nicht mal so etwas Burgunderhaftes machen?« 

Die trockene Auslese, die Ende der 1990er-Jahre eine Zeitlang von sich reden machte, als sich neben Hajo Becker auch Exponenten wie Gunter Künstler oder Bernd Philippi ihrer annahmen – sie ist inzwischen fast überall aus den Sortimenten -verschwunden. Zu Recht? An Beckers und Wein kann man Zweifel bekommen. 

Schätze zum Entdecken

Eine ähnlich umfangreiche Liste älterer Jahrgänge hat auch Markus Molitor in Zeltingen zu bieten: Lagen, Prädikate und Jahrgänge in mehr als neunzig Spielarten. Dabei stehen noch nicht einmal alle Weine auf der Liste, die de facto verfügbar sind. »Manche nehme ich wieder runter, bevor sie ausverkauft sind, und bringe sie später ein zweites Mal«, sagt Molitor. Und bricht in schallendes Gelächter aus bei der Rückfrage, wie er eigentlich die Übersicht über seine Bestände behalte: »Aber das ist doch gerade der Spaß daran!«

Cecilia Jost setzt die Tradition ihres Vaters fort, auf reife-beständigen Wein zu setzen.
© Axel Gross
Cecilia Jost setzt die Tradition ihres Vaters fort, auf reife-beständigen Wein zu setzen.

Obwohl die Winzer also durchaus noch stille Reserven im Keller schlummern haben, war eine Kategorie bei unserer Probe nur schwach vertreten: Es gab nur sechs Kabinett-Weine. Ist das schon das Totenglöckchen für Deutschlands leichtesten Rieslingtyp? Oder legen die Winzer den Kabinett nur weniger häufig zur Seite? Dass Letzteres ein Fehler wäre, zeigt der subtile 2008er aus dem Weingut von Peter Jost und seiner Tochter Cecilia in Bacharach am Mittelrhein. Peter Jost freut sich am meisten darüber, dass mit dem 2008er ein besonders schlankes 
Jahr so gut abgeschnitten hat: »Mit einer Säure von acht, besser neun Gramm, fünfzig Gramm Restzucker und acht Prozent Alkohol – das gibt Harmonie, dann wird der Kabinett zum Lehrbeispiel.« Tochter Cecilia, die im Jahrgang 2008 Auslandsstationen in Österreich und Neuseeland absolvierte und den Wein also nicht mitgekeltert hat, weiß dennoch genau, welche Speisen er am besten begleitet: »Passt super zu einer scharfen Fleischsuppe beim Vietnamesen!«

Geduld lohnt sich

August Kesseler hebt bei seinem Kommentar zur delikaten 2007er Goldkapsel Spätlese aus dem Rüdesheimer Berg Schlossberg noch einen anderen Aspekt hervor: »Wenn man lagerfähige Weine machen will, dann können die nicht gleich nach der Abfüllung schon top schmecken. Drum kriegen wir bei Jungweinproben manchmal einen auf den Deckel. Aber ich bleibe dabei, den Weinen ein langes Hefelager zu geben, spät zu schwefeln und spät abzufüllen. Sonst verschenkt man Potenzial!«

Starkes Familienteam: Hanno, Dorothee, Philipp und Ruth Zilliken.
© Photowerkstatt Esser_Baus
Starkes Familienteam: Hanno, Dorothee, Philipp und Ruth Zilliken.

Wie fantastisch es sein kann, wenn man Weine nicht nur im ersten Moment, sondern nochmals mit der Distanz einiger Jahre probiert, dies führt einem die Entwicklung der Weine aus dem Jahrgang 2003 vor Augen. Hatten viele Kommentatoren (der Schreibende eingeschlossen) anfangs die Befürchtung, das Hitzejahr habe mit seinen milden Säuren rasch verblühende Weine hervorgebracht, so darf man heute feststellen: Das Gegenteil ist der Fall. In der Falstaff-Probe demonstrierte das die konzentrierte, auf raffinierte Weise mit Schmelz und Eleganz spielende Spätlese vom Weingut Zilliken aus Saarburg. »Die letzten Jahre trinken wir die 03er wieder sehr gerne«, sagt auch Dorothee Zilliken, die mit ihrem Vater Hans-Joachim die Leidenschaft für gereiften Riesling teilt. »Unsere Weine verschließen sich ja oft nach ein paar Jahren, aber seit zwei, drei Jahren schmecken die 2003er wieder sehr attraktiv. Und grade diese Spätlese eignet sich ideal als Aperitif, und sie passt auch sehr gut zu Käse. Ebenso zu Desserts, wenn die nicht zu süß sind.«

Legendär: die gut gefüllte Schatzkammer der Familie Zilliken.
© Photowerkstatt Esser_Baus
Legendär: die gut gefüllte Schatzkammer der Familie Zilliken.

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Aus dem Falstaff Magazin Nr. 03/2017

Ulrich Sautter
Ulrich Sautter
Wein-Chefredakteur Deutschland
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