Neue Szene Berlin

In Berlin hat sich abseits der bekannten Luxustempel eine Gourmetszene auf hohem Niveau entwickelt.

So viele Eröffnungen wie dieses Jahr hat die deutsche Hauptstadt noch nicht erlebt, so viel Szene auf einmal gab es in Berlin noch nie. Knapp ein Dutzend aufregender In-Lokale mit Gourmetanspruch haben aufgemacht, quasi jeden Monat eines – das reicht schon an New York oder London heran. Der Grund: Alle wollten sie rechtzeitig zum Start des neuen Hauptstadtflughafens Präsenz zeigen. Der verzögert sich bekannter­maßen, aber zum Glück sind die neuen Locations so gelungen, dass sie auch dann noch existieren werden, wenn »Willy Brandt« endlich den Betrieb aufgenommen hat.

Eine Szene definiert sich neu
Die Tour beginnt im romantischen »Katz Orange«. Schon der Gang an den ­alten Fabrikgebäuden vorbei hin zum Restaurant ist beeindruckend, auf zwei Etagen wird bei Partystimmung in großen Gruppen getafelt. Die entspannte Atmosphäre macht Lust auf mehr, hier wird die Messlatte für die Szene neu definiert: Das Tatar vom Freilandrind hat natürlich Bioqualität, die frisch geschnittenen Pommes frites dazu müssen die besten im Umkreis von gefühlten 1000 Meilen sein. Das geschmorte Schwein und das sehr gute Bier aus kleinen Brauereien wie Maxlrainer stehen für diesen Trend, wie er derzeit auch in New York Mode ist.

Im romantischen »Katz Orange« wird die Messlatte für die Szene definiert / Foto: beigestellt

Individualismus
Nicht weit weg, in der Torstraße, überzeugt das »MANI« im Hotel MANI durch seine Individualität. Das Publikum ist ein Mix der Mode- und Musikbranche und die Küche eine lebendige Mischung aus israelischen und arabischen Elementen, köstliche Kleinigkeiten werden aufgetischt. Die Salate sind fein und frisch, die Gerichte unorthodox, das Lamm­ge­schnetzelte mit Feigen kommt herrlich aromatisch daher.

Torstraße als Hotspot
Die Küche des »Mani« ist ein Mix aus israelischen und arabischen Elementen, etwa bei den saftigen Lammrippchen auf knackigem Salat / Foto: beigestelltDie Torstraße hat sich zum quirligen Mittelpunkt der Restaurantszene entwickelt. ­Neben dem nahe gelegenen »Katz Orange« und dem »MANI« findet sich mittendrin das legendäre »Bandol sur Mer«, immer noch täglich ausgebucht, mit feinem französischem Haute-­Cuisine-Menü – die Foie gras mit Quitte ist sensationell (für Fans: Brad Pitt hat sich schon lange nicht mehr in dem winzigen Lokal blicken lassen). Etwas weiter die Straße runter folgt mit dem »Trust« (Torstraße 72) die derzeit spannendste Bar der Stadt.

Gourmet-Filialen
Wie steht’s mit den Klassikern »Grill Royal« und »Borchardt«? Abgemeldet? Keineswegs, im Gegenteil: Sie laufen so gut, dass beide Restaurants Filialen eröffnet und damit einen Trend gesetzt haben – mit dem »Pauly Saal« in der Jüdischen Mädchenschule an der Auguststraße (eine Parallelstraße zur Torstraße) und mit einem »Grand Café« im Haus Cumberland am Kurfürstendamm, das Ende 2012 eröffnen soll.

»Long March Canteen« in Kreuzberg: Hier wird feinste Szechuan-Küche serviert / Foto: beigestelltZeitgemäße Erlebnismahlzeiten
»Pauly Saal« sorgte für das größte Auf­sehen im Eröffnungsreigen direkt zur Berlinale. Die Geschäftsführer Boris Radczun und Stephan Landwehr lieben es zu provozieren und zu polarisieren. Das Restaurant hat noch nicht ganz zu seinem eigenen Stil gefunden, die einen sehen in ihm das Wohnzimmer des »Grill Royal«, andere ein überaus versnobtes Etablissement. Dabei ist die Atmosphäre in dem hohen Raum mit den Murano-Leuchtern sehr angenehm. Das Essen ist unprätentiös deutsch. Chef Siegfried Danler wurde kürzlich zum »Berliner Aufsteiger des Jahres 2012« gewählt. Er schafft zeitgemäße Erlebnismahlzeiten wie den Sonntagsbraten, seine Küche verbindet modern interpretierte Regionalität mit einem hohen Maß an eigenen Ideen.

Beef pur!
Das »The Grand« – ebenfalls eine Filiale von den Machern des »Spindler & Klatt« und des ehemaligen »Rodeo’s« – hat sich ­bereits in der Stadt etabliert. Das elegant­trashige Lokal über zwei Etagen mit phänomenalem Lüster wird von der Berliner Szene mit Begeisterung angenommen. Der Service von Rainer Möckel ist so professionell, dass er auch in Stoßzeiten einen reibungslosen Ablauf gewährleistet, wie er es schon zu früheren Zeiten im »Borchardt« demonstriert hat. Chefkoch Tilo Roth ist ein versierter Tüftler, der sein Fach meisterlich beherrscht. Das Lokal trägt dem zweiten Mega-Trend in Berlin – Beef pur! – Rechnung, das Entrecôte vom Irish Hereford vom Southbend-Grill ist exzellent und schon vor der Bestellung hinter Glas zu begutachten.

Ganz der Fleischeslust hat sich auch der »Brooklyn Beef Club« verschrieben. Das stilvolle Souterrain-Restaurant verfügt nicht nur über eine Whiskybar mit 200 Sorten – das Black Angus, das Porterhouse oder das Rib Eye vom Wagyu sind eine Klasse für sich.

Auch das »First Floor« zeigt kulinarischen Ideenreichtum, etwa mit einem Kunstwerk zum Thema Himbeere / Foto: beigestellt
Auch das »First Floor« zeigt kulinarischen Ideenreichtum, etwa mit einem Kunstwerk zum Thema Himbeere

Fleischeslust
Das »Filetstück« in Prenzlauer Berg ist ein Klassiker der Beef-Szene – faszinierender ist allerdings die Filiale im Westen an der Uhlandstraße. Denn das »Filetstück West« vereint alle Aspekte von Szene, Beef und Gourmetansprüchen. Chefkoch Sascha Ludwig macht das an eine Fleischerei erinnernde Res­taurant zum ­kulinarischen Gesamtkunstwerk. Nach Sta­tionen in der »Quadriga« und bei Thomas Bühner im »La Vie« sind die Menüs präzise und überraschen mit Gerichten wie Schwarzfederhuhn mit Perigord-Trüffel-Semmelbrioche und Gurkensalat mit Dickmilchsauce.

Geschmacksexplosion
Kiezwechsel. Eine Überraschung bietet die »Long March Canteen« in Kreuzberg. Der lange Marsch entlang hoher Bambuswände führt in einen riesigen Raum, der eher an einen Techno-Club erinnert. Man sitzt an schier endlosen Tischen. Die Szechuan-Küche ist sensationell gewürzt, eine wahre Geschmacksexplosion. Die gebackenen Schweinerippchen sind nicht nur eine Sünde wert, die Ochsenbäckchen in Reiswein verschwinden in Sekundenschnelle von den Tellern, alle am Tisch greifen mit ihren Ess-Stäbchen danach, der Raum ist erfüllt vom Klappern der Sticks und von Gesprächen. Ein charmanter Laden, wahrlich eine Reise wert.

Türkisch für Feinschmecker
Wer hätte gedacht, dass sich nach Jahrzehnten voll Döner und Dürüm ein türkisches Restaurant in die Gourmetklasse wagt? Das »Honça« bietet raffinierte ana­tolische Küche, der Service ist herzlich und kompetent. Eine echte Entdeckung.

Gemüse-Genuss
Wer nicht nur dem Fleisch frönen will, für den gibt es das »La Mano Verde«. Das Restaurant befindet sich schon eine ganze Weile in Berlin, es wechselte allerdings öfter die Adresse. Inzwischen haben sich bereits mehrere ­Köche aus dieser Schule mit eigenen Lokalen selbstständig gemacht. Trotzdem bleibt es das Restaurant mit dem besten veganen Essen der Stadt, mit erstaunlich feiner Optik und aufregenden Geschmacksnuancen.

Sternegastronomie passt sich an
Trotz des Szene-Booms können sich auch die Sterne-Restaurants nicht beklagen, in Berlin gibt es mehr davon als in jeder anderen Stadt Deutschlands. Sie erreichen inzwischen auch ein jüngeres Publikum, denn sie passen sich an, werden lockerer und verlieren jene Steifheit, die bisher so manchen von einem Besuch abgehalten hat. Groß in Fahrt sind derzeit »Reinstoff«, »First Floor«, »Fischers Fritz« und »Lorenz Adlon Esszimmer«. Alle gehen mit mehr kulinarischer ­Power ins Rennen, die Küchenchefs haben ihre Handschrift raffiniert verfeinert.

Dynamischer Metropolenstil
»Margaux« und »Tim Raue« bleiben Trendsetter für einen dynamischen Metropolenstil, der sich immer wieder selbst erneuert. »Facil«, »Hugos«, »Vau« und »Rutz« sind besser denn je. Auch abseits der bekannten Tempel glänzen Juwelen wie das »Horvath«, das »Frühsammers« und das »Duke« im Hotel Ellington. Neu hat sich Markus Semmler in diese Liga gekocht. Der ehemalige Berliner Meisterkoch hat seit der Eröffnung seines ­Restaurants deutlich zugelegt. Sein Tatar vom Rinderfilet mit Kaviar und Sardine sowie die Stopfleber mit Balsamicopflaumen sind kulinarische Kunstwerke.

Gagnaire als internationaler Star
Und dann wäre da noch das Waldorf Astoria. Sein Restaurant »Les Solistes by Pierre Gagnaire« ist in der Stadt das einzige neue auf internationalem Top-Niveau (neben dem »Cumberland« vielleicht, das im Westen der Stadt eröffnen wird, und dem »Cinco by Paco Pérez«, das der katalanische Zwei-Sterne-Koch demnächst im Hotel Das Stue betreiben wird, mit Molekularküche à la Ferran Adrià). Bei Gagnaire sollen die ersten Gäste Ende 2012 bzw. Anfang 2013 Platz nehmen. Falstaff hat zumindest schon mal einen Blick hinein geworfen: Das Restaurant im ers­ten Stock ist atmosphärisch ansprechend gestaltet, mondän, mit lilafarbenen Sofas, Mauersteinen und edlem Holz. Chef Roel Lintermans hat sich bereits in London mit dem Gagnaire-Res­taurant »Sketch« einen Stern geholt und will in Berlin auf modern-regionale Küche setzen. Was man schon sagen kann: Die exklusive Bar auf der anderen Seite des Hauses mit Blick auf die Gedächtniskirche wird eine der Top-Locations in Berlin werden.

Der Berliner »Capital Club«

33 Top-Adressen in Berlin


Text von Niko Rechenberg
Aus Falstaff Deutschland Nr. 06/12

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