Neu, schräg, anders: Bier-Boom in Berlin

Die intensiven Porters, Pale Ales und Pilsener aus Berlin sind so ­beliebt wie noch nie. Falstaff hat sich in der Szene umgesehen.

Rasantes Tempo, internationaler Charme und eine fröhliche Gier nach Vielfalt bestimmen derzeit den boomenden Enthusiasmus in Berlins Bierwelten. Kaum eine Woche vergeht, ohne dass in der Metropole ein neues Bier gebraut, ein Brewpub eröffnet oder ein Brauwaren-Shop mit Fässern, Flaschen und Dosen bestückt wird, um den Hauptstadtgaumen zu überraschen.

»Sie sind unwürdig«, verkündet die Inschrift auf der Flasche. Und weiter: »Dies ist ein aggressives Ale. Sie werden es vermutlich nicht mögen. Es ist recht zweifelhaft, ob Sie das Geschmacksvermögen und die Kultiviertheit besitzen, um ein Bier dieser Qualität und Tiefe zu würdigen.« Der Name ist Programm. Das Bier heißt »Arrogant Bastard«, gebraut von Stone Brewing aus Kalifornien. Und bald Berlin.

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Die Nachricht, dass Stone Brewing eine Brauerei in Mariendorf errichtet, sorgte letztes Jahr für Staunen. 25 Millionen US-Dollar investiert die zehntgrößte Craft-Brauerei der USA im Süden Berlins, um das Land des Reinheitsgebots mit ihren extremgehopften Spezialbieren zu versorgen. Zu dem krawalligen Image von Stone Brewing passte der Auftritt von Geschäftsführer Greg Koch anlässlich der Grundsteinlegung. In einer flammenden Rede verdammte er die langweiligen und geschmacksarmen Industriebiere, um dann einen Berg davon mit einem großen Felsbrocken zu zermalmen.

Hohe Ansprüche
Berlin scheint wieder reif für eine anspruchsvolle Biervielfalt. Von der großen Biertradition der Hauptstadt mit über 100 Brauereien um 1900, ist außer einigen historischen Industriearealen nicht mehr viel übrig. Auch das Ur-Bier der Stadt, die Berliner Weiße, ist so gut wie ausgestorben. Und das, obwohl Berlin neben Weihenstephan der wichtigste Ort der Brauerausbildung in Deutschland ist. Die Erneuerung kommt von außen.

Mit einigen Jahren Verspätung erobert die Craft-Brewing-Welle zunehmend auch Deutschland, insbesondere Berlin. Warum so spät? Eric Ottaway, General Manager der Brooklyn Brewery, die ebenfalls mit einem Brauereistandort in Berlin liebäugelt, erläutert: »Das Industriebier in Deutschland ist zu gut. Hier herrschte nicht der Leidensdruck, wie es ihn in den USA und vielen anderen Ländern gab.«

Einfluss von außen
Berlin ist international. So blieb es nicht aus, dass diese vielfältige Community ihre Biererfahrungen aus den Craft-Ländern herübertrug. David Spengler, Matt Walthall, und Tom Crozier, zwei Lehrer und ein Journalist aus den USA, treffen in Berlin aufeinander und vermissen Facettenreichtum: »3,5 Millionen Menschen, aber kein vernünftiges Porter, India Pale Ale & Co.« Was dann als Heimbrau-Projekt beginnt, mündet in ihrer eigenen Brauerei: Vagabund.

Diese kosmopolitische Seite der Hauptstadt sorgt für Kenntnis, Akzeptanz und Begeisterung für die neuen Craft-Stile. Das bestätigt auch Diplom-Braumeister Philipp Brokamp, der im Ortsteil Friedrichshain die Gasthausbrauerei »Hops & Barley« betreibt. »Ein hünenhafter Gast stellte sich als schwedischer Brauer der Närke Kulturbryggeri heraus. In intensiven Gesprächen berichtete der Schwede von Dry-Hopping und Hopfensorten wie Amarillo und Sorachi Ace. Ich wollte das alles sofort kennenlernen und ausprobieren«, erklärt Brokamp sein Schlüsselerlebnis.

Johannes Heidenpeter: der Star der neuen Bierszene Berlins. / Foto beigestelltStar in der aktuellen Craft-Szene ist Johannes Heidenpeter. Der Quereinsteiger, eigentlich Künstler, begeistert mit seinen kreativen Bieren, die er in der historischen Markthalle IX braut und bei denen das Reinheitsgebot nur mittelmäßig interessiert: »Den Leuten gefallen meine Brauwaren, auch wenn nicht Bier draufstehen darf.« Dann eben Ale oder Brauspezialität oder ein Fantasiename. »Holunder oder Koriander in Kombination mit Hopfen ergeben wundervolle Aromen. Warum sollte mich ein Gesetz von 1516 daran hindern, das zu genießen?«, so Heidenpeter.

Endlich entdeckt auch die gehobene Gastronomie die neue Vielfalt. Das Hotel am Steinplatz lässt von Schoppe Bräu in Kreuzberg bereits ein eigenes Bier exklusiv brauen. Küchenchef Markus Zimmer, Senkrechtstarter in der Berliner Gourmet-Welt, entwickelt für das angeschlossene Restaurant am Steinplatz aktuell ein Menü mit Bierbegleitung: »Selbst die traditionellen Bierstile bieten ein grandioses Aromenspektrum mit köstlichen Kombinationsmöglichkeiten.
Damit können wir selbst gestandene Gourmets noch überraschen.« Wir meinen: Bitte mehr davon.

BERLINER BIERE IM FALSTAFF-CHECK

Pale Ale Heidenpeters / Foto beigestellt96 Punkte
Pale Ale
Brauerei: Heidenpeters
Braumeister: Johannes Heidenpeter
Alkohol: 5,3 % ABV
Bierstil: Pale Ale

Ein Quereinsteiger als Senkrechtstarter der aktuellen Bierszene in Berlin. Über einem vollen Bernsteinton sitzt ein stabiler Schaum. In einer komplexen und vielversprechenden Nase treffen Kräuter auf Früchte, Himbeere auf Majoran, dazu ein Hauch von Nadelwald. Das Mundgefühl ist zunächst weich, bevor die Aromen sich öffnen und eine entspannt trinkbare und dabei herrlich komplexe und ausgewogene Vielfalt offenbaren. Der lange, leicht fruchtige Nachhall mündet in einen Hauch von Eukalyptus. www.heidenpeters.de

Black Flag Schoppe / Foto beigestellt94 Punkte
Black Flag
Brauerei: Schoppe Bräu
Braumeister: Thorsten Schoppe
Alkohol: 9,0 % ABV
Bierstil: Imperial Stout
Ein fester Schaum, den  man beinahe espumagleich löffeln möchte. Näher an Schwarz ist bei einem Bier farblich kaum möglich. Die Nase enthüllt Kaffee, Bitterschokolade und heißen Schiefer. Eine leichte ­Säure überrascht die Zunge. Danach gesellt sich zum Duft noch Kirsch hinzu und erinnert an eine gehaltvolle Schwarzwälder Kirschtorte. Nun kommt eine komplexe Süße mit Portweincharakter hinzu. Ewiglanger, trockener Nachhall mit Pumpernickel, Schokolade und einem Hauch von Rauch. www.schoppebraeu.de

Flessa Pilsener / Foto beigestellt91 Punkte
Flessa Pilsener
Brauerei: Flessa Bräu
Braumeister: Christoph Flessa
Alkohol: 5,0 % ABV
Bierstil: Pilsener
Womöglich das beste untergärige Craft-Bier der Hauptstadt, derzeit. Heller Goldton mit leichter naturtrübung. Stabiler, duftiger Schaum. Die Nase ist appetitlich und hopfenfrisch und mündet in eine komplexe Aromatik mit Anklängen von Wiese, Blumen, Johannisbeere und grüner Paprika. Der mittellange Ausklang ist trocken und ausgewogen mit kraftvoller Hopfennote. Ein famoses Bier nach ­Pilsener Brauart. www.brauerei-flessa.de

Wedding Pale Ale / Foto beigestellt90 Punkte
Wedding Pale Ale
Brauerei: Bierfabrik Berlin
Braumeister: Sebastian Mergel
Alkohol:  5,2 % ABV
Bierstil: India Pale Ale
Was als studentisches Projekt im Bezirk Wedding begann, entwickelte sich mittlerweile zur mittelständischen Brauerei in Marzahn. Ihren Ursprüngen widmet das Team um Sebastian Mergel das süffige Wedding Pale Ale mit dem leuchtenden Bernsteinton und einem Duft nach Mandarine. Diese setzt sich am Gaumen fort, begleitet von kräftigen Röstaromen, Lychee, Maracuja und Minze. Auch Reis wird im Brauprozess eingesetzt. Der mittellange Nachhall ist komplex und trocken und verlangt ein fruchtiges Curry oder einen gedünsteten Fisch im Bananenblatt. www.bierfabrik.de

Red Oak Ale / Foto beigestellt90 Punkte
Red Oak Ale
Brauerei: Spent Brewers Collective
Braumeister: Dan Frye und Sören Hars
Alkohol: 5,9 % ABV
Bierstil: Hafer Ale
Das anarchistische Braukollektiv vermerkt bei den Zutaten des Bieres neben Hopfen, Geste, Wasser und Haferflocken noch: Chaos. Wer also ein antiimperialistisches und dabei noch veganes Gesöff benötigt, ist bei diesem kuriosen Brauverein richtig. Das Bier ist besser, als das wirre Getue: Herrliches rot-violett im Glas, wie auf dem Etikett. Das Aroma trägt etwas Rauch, reife Frucht mit Orange, Maracuja, Schwarzer Johannisbeere und Kiwi. Vollmundig mit langem Nachhall mit Holz, Karamell und Traube. www.spentcollective.de

Tanker Brauerei: Flessa Bräu / Foto beigestellt88 Punkte
Tanker
Brauerei: Flessa Bräu
Braumeister: Christoph Flessa
Alkohol: 3,7 % ABV
Bierstil: Spezial-Balkon-Export
Die homoerotische Anmutung des Etiketts passt zum liberalen Berlin, liegt aber an der exklusiven Fertigung des sehr alkoholleichten Gebräus für eine schwule Kneipe im Bezirk Friedrichshain, wo auch die Brauerei beheimatet ist. Eine schöne Bernsteinfarbe krönt eine kompakte Schaumkrone, aus der fruchtig-beerige Aromen empor steigen. Ein Hauch Honig schwingt in dem mäßig rezenten Bier mit. Das Mundgefühl ist weich und cremig mit Anklängen von Erdbeere. Im Anbgang trockener und getreidig mit einem Charakter von Märzenbier und Vollkornbrot. www.brauerei-flessa.de

Berliner Jahrgangsweisse 2013 Brauerei: Brewbaker / Foto beigestellt84 Punkte
Berliner Jahrgangsweisse 2013
Brauerei: Brewbaker
Braumeister: Michael Schwab
Alkohol: 3,0 % ABV
Bierstil: Berliner Weiße
Michael Schwab ist einer der bewährtesten Berliner Mikro-Brauer seit 2006. Unter Anwendung der traditionellen Brettanomyces Hefen widmet er sich dem vom Aussterben bedrohten Bierstil Berlins. Klassische Trübung in dunklem Goldton. Die Nase offenbart eine intensive Fruchtsäure. Der Gaumen verspürt Zitrus, grünen Apfel und etwas Minze. Ein langer Nachhall mit deftigen Hefearomen und fruchtiger Säure wirft die Frage auf, ob ein Schuss Waldmeistersirup oder – ganz klassisch – Kümmelschnaps darin fehlt. www.brewbaker.de

Helles Brlo / Foto beigestellt82 Punkte
Helles
Brauerei: BRLO
Braumeister: Michael Lembke
Alkohol: 5,0 % ABV
Bierstil: Bayerisch Hell
Die unaussprechbare Buchstabenkombination steht für den urslawischen Wortstamm für Berlin. Zwei Wirtschaftswissenschaftler taten sich mit einem Brauer zusammen, um ein neues Hauptstadtbier zu entwickeln. Der Goldton ist klar, der Schaum zerfällt rapide. Die Nase verspricht Sauerteig mit einem Hauch Feuerstein und der Körper hält einen sortentypischen Getreidecharakter, wobei das Gebräu relativ süß schmeckt. Angenehmer, mittellanger Nachhall. www.brlo.de

Kickstarter Pale Ale Brauerei: Flying Turtle / Foto beigestellt78 Punkte
Kickstarter Pale Ale
Brauerei: Flying Turtle
Braumeister: Thorsten Schoppe
Alkohol: 5,6 % ABV
Bierstil: Pale Ale
Das Motiv der fliegenden Schildkröte wähnte die Bierszene bereits vergeben. Alexander Brewing in Israel fertigt das vermutlich beste Export Stout der Welt. Da kann die gepanzerte Flugreptilie aus Berlin nicht ganz mithalten. Die dezent hopfenbetonte Nase entwickelt eine deftige Süße, die sich nicht so recht in die grasige Aromatik einbinden mag. Der Mund ist angenehm ausgefüllt und dezente Tropenfrucht sorgt für angenehme Stimulation, bevor eine leicht überbordende Süße die Kontrolle übernimmt. www.flyingturtlebeer.de


Text von Peter Eichhorn  
Aus Falstaff Deutschland Nr. 02/2015

Peter Eichhorn
Peter Eichhorn
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