Das Bewusstsein für den Wert von Lebensmitteln schlägt sich langsam auch im Einkaufsverhalten der Deutschen nieder, doch ein weiter Weg ist noch zu gehen.

Das Bewusstsein für den Wert von Lebensmitteln schlägt sich langsam auch im Einkaufsverhalten der Deutschen nieder, doch ein weiter Weg ist noch zu gehen.
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Nachhaltigkeit: Was wir uns wert sind

Billigfleisch oder teures Biobrot? Wegwerfen oder weiterverwenden? Nicht erst seit Corona steht unser Umgang mit Lebensmitteln auf dem Prüfstand. Wie wollen wir in Zukunft leben?

Bio, regional, saisonal und fair: Die Deutschen sind beim Einkaufen vom Nachhaltigkeitsgedanken beseelt. Sechs von zehn Verbrauchern legen bei Lebensmitteln besonderen Wert auf Umwelt- und Tierschutz, das ergab eine groß angelegte Studie des Marktforschungsunternehmens Nielsen zu Beginn des Schicksalsjahres 2020. Weitere Aspekte, die bei der Kaufentscheidung an Relevanz gewonnen haben, waren

  • Regionalität (66 Prozent)
  • Tierschutz (61 Prozent)
  • Umweltschutz (60 Prozent) und
  • Fairtrade (48 Prozent).

Ihren Fleischkonsum reduzieren 31 Prozent. Besonders spannend: Schlank um jeden Preis – das muss nicht mehr sein, die Nachhaltigkeit ist wichtiger als der eigene BMI. So achten laut Umfrage nur noch 18 Prozent auf eine fett- und kohlenhydratarme Ernährung – 2016 waren es noch 22 Prozent. Dafür entscheiden sich inzwischen 29 Prozent für eine bestimmte Ernährungsform, wenn diese mit Klimaschutz im Einklang gebracht werden kann. 

Bio, öko, fair – das boomt. Auch die Ausbreitung von Covid-19 hat damit zu tun, denn die Pandemie veranlasst viele, ihre Beziehung zu Lebensmitteln zu überdenken: Man will im wahrsten Sinne des Wortes »voll-wertig« gesund bleiben und gleichzeitig die lokalen Produzenten und damit die eigene Wirtschaft stärken

Weniger Ausgaben für Lebensmittel

Fast könnte man ein bisschen stolz werden auf das Umweltbewusstsein unserer Landsleute. Doch diesen vielversprechenden Zahlen steht eine anderen Realität gegenüber: Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner stieß ebenfalls Anfang des Jahres eine Debatte über die womöglich zu niedrigen Preise für Lebensmittel in Deutschland an – tatsächlich wenden einige Europäer einen viel höheren Anteil ihrer Konsumausgaben für Nahrungsmittel auf. Im EU-Vergleich rangiert die Bundesrepublik unter jenen fünf Ländern, die anteilsmäßig am wenigsten für Essen ausgeben. Noch sparsamer sind nur noch Österreich, Luxemburg, Irland und Großbritannien – dabei muss man allerdings berücksichtigen, dass Europäer mit einem geringeren Haushaltsbudget einen höheren Anteil für ihre Grundbedürfnisse ausgeben müssen.

Mehr Wert, weniger Verschwendung

Doch sind die Deutschen nun knausrig beim Einkaufen oder doch bio-bewusst und aufgeklärt? Schon lange fordern Food-Aktivisten und Gastrosophen eine Auseinandersetzung mit der Wertigkeit unseres Essens. »Einerseits müssen gesunde, nachhaltige und ökologische Lebensmittel für alle Menschen bezahlbar und zugänglich sein, andererseits muss Nahrung wieder einen Wert bekommen. Stark verarbeitete Nahrungsmittel zerstören nicht nur die Umwelt und unsere Gesundheit, sondern auch die Vielfalt in unserer Küche. Ich wünsche mir, dass jeder Einzelne mit Bedacht und Verantwortung einkaufen geht«, so die streitbare Star-Köchin und Autorin Sarah Wiener (»Zukunftsmenü: Was ist uns unser Essen wert?«, erschienen im Riemann Verlag). 

Für Wiener heißt genussvoll essen »auch, achtsam zu essen und zu wissen, was man überhaupt isst, woher es kommt und wie es produziert wurde. Wenn wir das wissen, können wir selbst bestimmen, was wir essen. Doch die Situation verschlechtert sich, weil wir meist stark verarbeitete Nahrungsmittel essen, von denen wir nicht mehr wissen, was sich darin befindet. Wir lassen uns quasi füttern. Und: Wir vergeuden auch viel zu viele Lebensmittel. Jeden Tag.« 

Zu gut für die Tonne

Wiener hat recht: Die ausufernde Lebensmittelverschwendung verursacht weltweit satte 3,3 Gigatonnen CO²-Emissionen und ist damit eine der größten Klimasünden unseres Planeten. Jedes Jahr werden alleine in Deutschland 18 Millionen Tonnen Essen weggeworfen – sei es im Einzelhandel, in der Gastronomie oder zu Hause –, und davon sind satte zehn Millionen Tonnen vermeidbare Abfälle. Bildlich gesprochen: Das entspricht einer landwirtschaftlichen Anbaufläche von der zehnfachen Größe des Saarlands, auf der nur Essen angebaut wird, das am Ende im Müll landet. Dadurch wandern auch jährlich rund 235 Euro pro Person ebendorthin.

Doch für jedes Gift scheint es ein Heilmittel zu geben: So rief die UNO am 29. September 2020 mit dem mit dem International Day of Awareness of Food Loss and Waste erstmals einen Aktionstag ins Leben, der wieder mehr Wertegefühl in unsere Haushalte bringen soll. Damit will man auf die Lebensmittelverschwendung aufmerksam machen, aber auch auf zukunftsorientierte Lösungen zur Lebensmittelrettung – denn immer mehr Menschen entwickeln Projekte, um wertvolle Ressourcen ökologisch und sozial sinnvoll zu verteilen, auch in Deutschland, darunter Too Good To Go. Die App ermöglicht es Betrieben wie Supermärkten, Bäckereien, Restaurants, Cafés und Hotels, ihren Überschuss zu einem vergünstigten Preis an Selbstabholer zu verkaufen. Eine klare Win-win-Situation: ausgezeichnetes Essen für die Kundschaft und Ressourcenschonung für die Umwelt – dieses wertvolle Rezept geht auf.

Nun will die Lebensmittelretter-Initiative mit einer neuen Wissensplattform rund ums Thema weiter wachsen und feiert einen Meilenstein: Seit dem Start der App 2016 wurden hierzulande drei Millionen Mahlzeiten gerettet. Dies entspricht einer CO²-Einsparung von ungefähr 7500 Tonnen. Dazu sagt Laure Berment, Geschäftsführerin von Too Good To Go Deutschland: »Unsere Community ist im vergangenen Jahr wahnsinnig schnell gewachsen und aktiv geworden. Wir können stolz behaupten, dass wir sowohl auf globalem Level als auch lokal in Deutschland zu einer richtig großen Lebensmittelretter-Bewegung geworden sind.« Und das völlig freiwillig und mit vereinten Kräften.

People, Planet, Profit

Eine Trendwende hin zu mehr Wertigkeit von Nahrungsmitteln findet also nicht allein auf politischer und wirtschaftlicher Ebene statt. Der Kunde bestimmt, wohin die Richtung geht – wenn er umdenkt, muss der Handel früher oder später nachziehen. Doch wie kann man dem Menschen im Supermarkt fair gehandelte Bio-Produkte schmackhaft machen, wenn sie doch oft teurer sind als die der Konkurrenz? 

Martin Rohla, Nachhaltigkeitspionier und Gründer von Goodshares, einem Beteiligungsunternehmen, das sich auf Investments in und die Beratung von nachhaltig agierenden Unternehmen im DACH-Raum konzentriert, meint dazu: »Indem man den sozialen und ökologischen Impact deutlich kommuniziert und den Konsumenten auf die Keule in seiner Geldbörse aufmerksam macht. Nachhaltige Veränderung kann nur aus neuen Konsumgewohnheiten kommen. Regulatorische Eingriffe verändern viel langsamer und nicht nachhaltig. Die großen Unternehmen müssen den Druck in ihren Bilanzen spüren, erst dann ändern sie etwas. Und umso mehr Leute bio konsumieren, desto billiger wird’s. Eine einfache Frage der Mengenskalierung. Allerdings stellt ein gerechter Preis auch die Existenz von nachhaltigen Produzenten sicher. Das muss es uns wert sein.«

An den schnellen Profit auf Kosten von Mensch und Umwelt glaubt Rohla nicht: »Nachhaltigkeit ist keine nette Marketingstory. Trotzdem sollte man sich dem Thema immer ohne Tunnelblick nähern.« Nicht immer sorgt nur das Label »bio« für einen positiven Effekt im Wertesystem. Bestes Beispiel: Bei »Swing Kitchen«, einer veganen Burger-Kette aus Österreich, die nun auch in Deutschland Erfolge feiert, ist nicht jede Zutat 100 Prozent bio. Und auch die Kunden sind zum größten Teil keine strengen Veganer. Was dabei wirklich Effekt hat? Geht es um den Klimawandel, denken die meisten an Flugzeuge und SUVs. Doch auch die Produktion von Fleisch trägt kräftig zur Erderwärmung bei, ein Drittel des globalen Ackerlands etwa wird für den Anbau von Futtermitteln genutzt. Gegenüber Rindfleisch verbrauchen die veganen Alternativen aus der rot-weiß-roten Burgerbude durchschnittlich 95 Prozent weniger Energie, 85 Prozent weniger Wasser, 96 Prozent weniger Getreide, 93 Prozent weniger Anbaufläche und 92 Prozent weniger Treibhausgase.

Feindbilder sind für Rohla der falsche Weg, interdisziplinäres Denken und Kooperationsfreude zwischen Industrie, Hersteller und Konsument der richtige. Wenn er privat der Fleischeslust frönt, dann greift er übrigens zum Gewehr. Verantwortungsvolle Jagd ist für ihn ein Best-Practice-Beispiel für nachhaltigen Fleischkonsum, der ohne Massentierhaltung auskommt, keine Agrarflächen verschwendet, für Gleichgewicht im Wald sorgt – und einfach gut schmeckt. Gerade der Umstand, dass Wildbret per definitionem niemals bio-zertifiziert sein kann – es kommt ja gerade nicht aus kontrollierter Zucht –, ist für ihn der beste Beweis, dass »bio ein weites Feld ist. Wir müssen uns wirklich und ausgiebig mit den Feinheiten auseinandersetzen«.

Erschienen in
Falstaff Nr. 08/2020

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Janina Lebiszczak
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