Bodensee mit Alpenpanorama: Der See liegt auf 400 Metern, das Weingut Aufricht 20 Meter höher.

Bodensee mit Alpenpanorama: Der See liegt auf 400 Metern, das Weingut Aufricht 20 Meter höher.
© Winfried Heinze

Müller-Thurgau: Über den Wolken

Der Müller-Thurgau gilt als ein harmonischer, aber auch harmloser Tischwein. Doch was passiert, wenn man ihn in der Höhe anbaut? Falstaff lud zur Probe »330 Meter+«.

Der Müller-Thurgau, sagt Eugen Schmidt, »ist eine schöne Sorte, wenn sie am richtigen Ort steht«. Schmidt kann sich die Einschränkung, die in dieser Aussage steckt, erlauben. Denn er weiß, dass Hattnau, wo er mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen Müller-Thurgau anbaut, ganz fraglos zu den »richtigen Orten« zählt. Hattnau bei Wasserburg am bayerischen Bodensee dürften die wenigsten Weintrinker auf ihrer önologischen Landkarte markiert haben. Welch ein Fehler! Bei der Falstaff-Blindprobe von Müller-Thurgau-Weinen, die auf mindestens 330 Metern Seehöhe oder höher gewachsen sind, errang Schmidt mit seinen filigranen und dennoch substanzreichen Weinen den ersten und den vierten Platz.
Um eine Erklärung ist der Winzer nicht verlegen: »Die Riesling-Komponente des Müller-Thurgau merkt man kaum irgendwo so wie hier bei uns am See.« Dabei lenkt Schmidt etwas von den eigenen Verdiensten ab, die bei diesem Erfolg zweifellos auch eine Rolle spielen. Denn Schmidt hat Riesling-Instinkt an den See gebracht: Anfang der Achtzigerjahre kam er von der Nahe ans bayerische Seeufer und schlug seiner Frau vor, es hier mit Weinbau zu versuchen. Die erfolgreichen Müller-Thurgau-Weine stammen vom ersten Weinberg, den das Ehepaar im Jahr 1984 angelegt hat. Mit viel Geduld ist die damalige Saat nun aufgegangen, das kühle und feuchte Klima am östlichen Bodensee, wo an klaren Tagen schon das Allgäu herüberleuchtet, ist in den immer häufiger auftretenden warmen und trockenen Sommern ein Bonus von unschätzbarem Wert.

Manfred, Johannes und Robert Aufricht (v. l. n. r.) mit Familienhund.
© b.lateral GmbH&Co.KG
Manfred, Johannes und Robert Aufricht (v. l. n. r.) mit Familienhund.

Moränen und Juraausläufer

»Wie einfach doch das Winzerhandwerk ist, wenn man die richtige Sorte am richtigen Ort hat«, sagt auch Berthold Clauß aus Nack am Hochrhein. Clauß arbeitet rund 80 Kilometer Luftlinie entfernt vom bayerischen Bodensee. Dass der Rhein bei Nack rund 50 Meter unter dem Wasserspiegel des Bodensees fließt, verhindert nicht, dass Clauß’ Weinberge trotzdem 50 Meter höher als diejenigen in Hattnau liegen. Denn vom Fluss aus steigen steile Flanken empor, und der Weinbau hat sich an den Südhängen der Hochplateaus ausgebreitet. Bei Erzingen liegen die Weinberge sogar auf einem Ausläufer des Juragebirges, mit Kalkgestein aus dem gleichnamigen Erdzeitalter inklusive.
Eine andere Welt als diejenige der Moränenböden am See. »Die Müller-Thurgau vom Moränenboden sind duftig, öffnen sich früh«, sagt Clauß. »Solche Müller produziere ich selbst ja auch, in Nack. Aber die Erzinger Lage bringt mehr Würze, da dachten wir uns: Warum nicht mal eine Spontangärung im Holz probieren?« Herausgekommen ist ein dezidiert »langsamer« Wein, der fast schon an die mineralische Liga der Loire-Sauvignons erinnert – nicht an die Fruchtbomben, sondern an die auf jahrelange Entfaltung angelegten Terroir-Charaktere.
Steckt in der Sorte Müller-Thurgau also mehr Terroir-Sensibilität, als man gemeinhin annimmt? Wer daran nach dem Ausflug an Bodensee und Hochrhein noch Zweifel hätte, dem würden sie wohl im Taubertal endgültig genommen. Nicht nur, weil in Auernhofen, unweit des oberen Flusslaufs, die Biowinzer Simone und Stephan Krämer mit wagemutigen Vinifikationen kompromisslos aufs Terroir fokussieren (siehe »Exkurs: Müller-Thurgau goes Orange«), sondern auch, weil Christian Stahl im selben Ort, aber mit einer völlig anderen stilistischen Idee letztlich zu ebenso terroirgeprägtem Müller-Thurgau gelangt.

Christian Stahl: Höhenflüge in der Lage Tauberzeller Hasennest auf 330 bis 400 Metern.
© Michael Stephan
Christian Stahl: Höhenflüge in der Lage Tauberzeller Hasennest auf 330 bis 400 Metern.

»Als die Tauberzeller Lage Hasennest 1984 im Rahmen der Flurbereinigung rekultiviert wurde, hat man im steilsten Stück Müller-Thurgau gepflanzt. Der Boden dort ist sehr gesteinsreich, der Untergrund purer Muschelkalk. Und die Position auf 400 Metern Höhe führt dazu, dass man die Trauben ›auf ganz kleiner Flamme‹ kocht. Als ich 2000 diesen Müller-Thurgau zum ersten Mal gepflegt habe, dachte ich mir: Behandle ihn wie einen großen Riesling. Und der Wein wurde auf Anhieb eine Art ›signature wine‹ für mich. Als der Betrieb gewachsen ist, habe ich schnell gemerkt: In den Müller-Thurgau-Weinbergen, die ich weiter unten am Main habe, kann ich den Tauberzeller Stil nicht kopieren, dafür braucht man die Höhe.« 

Der Wert der Höhe

Um genau zu verstehen, warum Höhenlagen gerade dem Müller-Thurgau so guttun, muss man sich vor Augen führen, dass diese frühreife Sorte den größten Teil ihres Reifeprozesses noch im Sommer vollzieht. Dadurch schreitet die Reife schnell voran, und das führt oft zu flachen Aromen. Jedes Grad Celsius, das eine Augustnacht auf 400 Metern kühler ist als auf 300 Metern, bremst die Reife und ebenso jeder zusätzliche Windstoß, der in der Höhe durch die Reben fährt. 

Bei Susanne und Berthold Clauß wird der Müller-Thurgau wie ein Burgunder behandelt. Und das in Höhen von bis zu 480 Metern.
© Helmuth Scham
Bei Susanne und Berthold Clauß wird der Müller-Thurgau wie ein Burgunder behandelt. Und das in Höhen von bis zu 480 Metern.

Dr. Jürgen Dietrich vom Staatsweingut Meersburg, dessen Wein aus der Meersburger Lage Lerchenberg die Subtilität der Höhenlage geradezu zelebriert, hat einen anschaulichen Vergleich bei der Hand, um den Wert der Höhe zu veranschaulichen: »Wie ist es denn bei Tee und Kaffee? Hochland-Tees, Hochland-Kaffees sind am gesuchtesten und erzielen die höchsten Preise.«
Berthold Clauß weist aber auch darauf hin, dass Weinbau in der Höhe Risikobereitschaft erfordert: »Die Müller gehen nicht zu früh in die Reife, das ist für die Weinqualität entscheidend. Aber man darf dann auch nicht die Nerven verlieren, wenn mal eine Wolke am Himmel steht. Dann braucht man Geduld und muss rauskitzeln, was möglich ist.«
»Man bekommt in der Höhe leichte Weine, deren Frucht trotzdem reif ist«, sagt der 24-jährige Johannes Aufricht vom Weingut Aufricht aus Stetten bei Meersburg. »Das ist der große Vorteil, den man früher unterschätzt oder manchmal auch kleingeredet hat.« Dass Volumen ohne den Eindruck der Breite möglich ist, zeigt der junge Winzer mit einem Spätlese-Typ von 50-jährigen Reben, die noch der Opa gepflanzt hatte. 

Moderner Gutsausschank, grundsolides Handwerk bei den Weinen: Familie Schmidt, Hattnau bei Wasserburg.
© www.medienagenten.de
Moderner Gutsausschank, grundsolides Handwerk bei den Weinen: Familie Schmidt, Hattnau bei Wasserburg.

Einig sind sich zuletzt alle, die Müller-Thurgau in der Höhe anbauen, dass die Sorte ein sehr viel besseres Image verdient hätte. Da stimmt es hoffnungsfroh, dass eine Genossenschaft bei dieser Aufholjagd mit bestem Beispiel vorangeht: »Im Jahr 2015 haben wir beschlossen«, berichtet Tobias Keck, Geschäftsführer des Winzervereins Hagnau, »dass alle unsere Mitglieder bei der Produktion des Premium-Müller-Thurgau ›Fass 247‹ mitmachen müssen. Manche bewirtschaften nur zwei oder drei Reihen nach diesen strengen Kriterien für Ertragsreduzierung und Selektion. Aber auch diese Mitglieder machen es mit Überzeugung.« 
Der Lohn: Platz drei im Falstaff-Test. Für einen Wein, auf den beispielhaft zutrifft, was Eugen Schmidt, der Winzer des Siegerweins, als Charakterisierung der besten Müller-Thurgau aus der Höhe formuliert hat: »Manchmal hat der Müller eine geradezu aristokratische Eleganz.«
Zum »Müller-Thurgau« Tasting!


Exkurs: Müller-Thurgau goes Orange

»Wir haben uns komplett aus dem üblichen Reinzuchthefen-Fruchtgeschmack rausgetrunken«, sagt Simone Krämer und lacht. Mit den zwei maischevergorenen Müller-Thurgau-Originalen, die das Ehepaar im Taubertal produziert – Silex aus Röttingen und Muschelkalk aus Tauberzell –, gehen die Bio-Winzer ganz eigene Wege. In der Falstaff-Blindprobe haben die Weine polarisiert. Diese ungewöhnlichen Müller-Thurgau-Weine sind jedenfalls mit so viel Raffinement gemacht, dass sie eine eigene Bühne verdienen. Erstmals 2015, so erzählt Stephan Krämer, hätten sie angesichts der gleichförmig reifen Trauben den Wunsch verspürt, etwas Neues auszuprobieren. Also versuchten sie, Komplexität zu schaffen, indem ganze Trauben und einzelne Beeren zusammen in einen Gärbottich kamen.
Damit in diesem Behälter etwas Kohlensäure als Oxidationsschutz über den Früchten steht, legte Krämer unten im Gärbottich ein Quantum bereits gärenden Mosts vor. Danach beginnt langsam, aber sicher eine Gärung, die halb intrazellulär (in den Beeren), halb auf der Maische mitsamt den Stämmen abläuft: So werden verschiedenste Phenole extrahiert, Aromen und Aromavorstufen. Nach Müller-Thurgau schmeckt das fast gar nicht mehr. Stephan Krämer: »Man sollte sie am besten in fünf, sechs Jahren trinken.« Denn Extrakt haben sie wie ein gehaltvoller Rotwein.


Erschienen in
Falstaff Nr. 03/2018

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Ulrich Sautter
Ulrich Sautter
Wein-Chefredakteur Deutschland
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