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Kommentar zum zweiten Lockdown: Am ehesten verzichtbar

Corona: Erneut zwingt die Politik Gastronomie und Hotellerie zu wochenlangen Schließungen. Die schwer getroffenen Branchen baden Fehler aus, die sie nicht zu verantworten haben.

Dicht gedrängt in Fliegern sitzen, das ist okay. Mit Bussen und Bahnen fahren? Kein Problem. Shoppen gehen? Na klar. Abends einen Drink in der Bar nehmen, mit der Freundin ins Lieblingsrestaurant? Geht die nächsten Wochen wieder nicht. Warum?

Jeder Gastronom, der sich in den vergangenen Monaten knapp über Wasser gehalten hat und zugleich in die Sicherheit seines Betriebs investierte, dürfte sich von den neuerlich angeordneten Zwangsschließungen auf den Arm genommen fühlen. Alle, die Trennwände und Softwaresysteme kauften, versuchten, ihre Mitarbeiter zu halten, ellenlange Hygienekonzepte schrieben, mit den Behörden verhandelten – und neben einer Menge Geld auch viel Zeit in Schutzkonzepte steckten – werden sich entgeistert an den Kopf fassen. Sie haben doch alles getan, alles versucht, und müssen jetzt, zusammen mit weiteren schwer getroffenen Branchen, die Misere der steigenden Fallzahlen ausbaden?

Ausbreitung nicht mehr unter Kontrolle

Man kann die Betroffenen gut verstehen. Die Kanzlerin sagte in der Pressekonferenz vom 28. Oktober: »Das Virus darf sich nicht unkontrolliert ausbreiten.« Aber gibt es im öffentlichen Leben derzeit Orte, wo Abstände, Hygienebestimmungen und Maskenpflicht so penibel kontrolliert werden wie in Bars, Restaurants, und Hotels? Hier sind die Regeln klar definiert, die große Mehrheit hält sich offenkundig daran, und regelmäßig wird die Einhaltung überprüft. Wie der Umgang mit Freunden, Familie und Bekannten aussah, kann rückblickend jeder für sich selbst beantworten. Vermutlich nicht so regelkonform. Nur zur Erinnerung: Bis vor wenigen Wochen waren im privaten Bereich sogar noch Zusammenkünfte bis zu 100 Personen erlaubt, aus heutiger Sicht unverantwortlich. Es wäre Zeit für ein Eingeständnis, dass die Politik damit falsche Prioritäten gesetzt hat. Stattdessen deutete Angela Merkel in der Pressekonferenz vom 28. Oktober an, zu jener Zeit sei die Akzeptanz in der Bevölkerung für schärfere Beschränkungen nicht vorhanden gewesen. Soll heißen: Wir sind selbst schuld, dass es jetzt so gekommen ist.

In den Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI) zu Ansteckungsorten stehen Gastronomie und Hotellerie auf den hinteren Plätzen. Weit vorn: private Haushalte, Wohnungen, Arbeitsplätze. Darauf, so Merkel, könne man sich aber nicht verlassen, in drei Vierteln der Fälle lasse sich das Infektionsumfeld nicht mehr nachverfolgen. Im Umkehrschluss heißt das, dass Treffen in Restaurants und Kneipen, Bars und Hotels eben sehr wohl für den rasanten Anstieg der Fallzahlen verantwortlich sein könnten – man weiß es nicht. Denn die Kontrolle über die Pandemie ist zum jetzigen Stand verloren.

Gastgewerbe trägt Folgen der Sorglosigkeit

Oberstes Ziel sei es, die Kontakte wieder nachverfolgbar zu machen. Deshalb, so Merkel, müssten die Begegnungen in der Bevölkerung insgesamt sinken, und zwar um 75 Prozent. Damit die Kitas und Schulen diesmal offen bleiben, damit die Wirtschaft nicht vor die Wand fährt und vor allem, damit das Gesundheitssystem nicht kollabiert, trifft es jetzt diejenigen, die aus Sicht der Politik am ehesten verzichtbar sind: Das Gastgewerbe, die Kulturschaffenden und weitere Branchen tragen die Folgen für das, was Teile der Gesellschaft mit sorglosem Verhalten verschuldet haben. Das ist extrem ungerecht. Hunderttausende Existenzen stehen auf dem Spiel. Und trotzdem: Der Gedankengang hinter dieser Abwägung bleibt verständlich, so schmerzhaft das ist. 

Immerhin soll es eine unbürokratische Entschädigung für entgangene Umsätze im November geben, 10 Milliarden Euro stehen bereit. Die geplante Erstattung, die bis zu 75 Prozent der Einnahmen aus dem November 2019 umfasst, ist wohl das Mindeste, was man betroffenen Betrieben anbieten muss.

Dennoch wäre es angemessen gewesen, wenn Merkel sowie die Ministerpräsidenten Söder und Müller auf der Pressekonferenz Fehler eingestanden hätten. Gerne hätten Hoteliers und Gastronomen wohl eine Entschuldigung gehört: Ja, wir lagen falsch mit unserer Lageeinschätzung im Sommer. Oder: Danke, dass ihr schließt, damit die Bildung unserer Kinder nicht auf dem Spiel steht. Doch dazu hörte man nichts.

Was passiert in der dritten Welle?

Immer offensichtlicher werden zudem Defizite in der Kommunikation von Merkel und Co. Entscheidende Punkte wie das Eingeständnis, die Kontrolle längst verloren zu haben, wurden nicht deutlich genug kommuniziert. Doch wie soll die Bevölkerung hinter den Maßnahmen stehen, wenn sie nicht klar begründet sind? Und: Wie soll es weitergehen, was ist das Szenario für 2021? Selbst wenn es gelänge, mit diesem zweiten Lockdown die Infektionsketten wieder unter Kontrolle zu bringen – was würde das für die Zukunft heißen? Der Virologe Hendrik Streeck hat schon darauf hingewiesen, dass nach der zweiten Welle eine dritte und vierte folgen wird. Soll auch dann wieder dem Gastgewerbe die Arbeit verboten werden?

Die Pandemie wird noch lange andauern. Länger als wir uns jetzt ausmalen möchten. Selbst wenn der Impfstoff zirkuliert, werden wir noch mit Einschränkungen leben müssen. So lange, bis mehr als die Hälfte der Bevölkerung immun gegen das Corona-Virus ist. Die einzige Möglichkeit, stetig wiederkehrende Beschränkungen zu vermeiden, ist Disziplin. Besser, wir nehmen es selbst in die Hand, als wenn die Politik nachhilft.

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Philipp Elsbrock
Philipp Elsbrock
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