Interview: Heimatfreak im Höhenflug

Falstaff-Herausgeber Christoph Teuner traf Virgilio Martínez vom »Central« in Lima, dem besten Restaurant Südamerikas.

Der 37-Jährige will Peru kulinarisch kartografieren. Mit Falstaff spricht er über die große Vielfalt seines Landes, über falsche Klischees, die Entführung seiner Mutter – und das unvermeidliche Meerschweinchen.

FALSTAFF: Sie haben ein sehr originelles Menü. Jedem Gang ist eine Meereshöhe ­zugeordnet…
Martínez:
Ja. Wir haben »Expedition in den ­Pazifik« mit Krötenfisch und Algen bei ­minus 25 Metern. Oder »Unkrautgarten« mit Kaktusmilch und Ginster bei 290 Metern. Es gibt »Rinden und Harze aus dem Dschungel«, 645 Meter, »Totes Amazonien« mit Chili und Kokablatt, 860 Meter, »Tal in den Anden« mit Baumtomaten und Avocado, 2875 Meter, und »Extreme Höhe« mit gefriergetrockneter Kartoffel und Gletscher­­see-Alge, 4200 Meter. Das waren erst sechs von 17 Gängen.

Wie kamen Sie auf diese Idee?
Durch meine Reisen in Peru. Ich bin andauernd unterwegs, um das Land zu erspüren. Ich war kurz davor, vor der irrwitzigen Vielfalt zu kapitulieren, als die Idee kam: Wir bilden jede einzelne Klimazone ab. Übrigens: 100 Prozent unserer Produkte im »Central« kommen aus Peru. Ich weiß von jedem Maiskolben, welcher Bauer in welchem Ort ihn angebaut hat. Wir wollen weiter lernen. Deswegen beschäftigen wir zwei Anthropologen, die noch mehr über die kulinarische Kultur Perus für uns herausfinden sollen.

Sie haben Ihre Ausbildung in der renommierten Cordon-Bleu-Schule gemacht. Und in französischen Restaurants in New York und London gearbeitet, auch im »Ritz«. Wie kam es zur Bekehrung zum peruani­schen Heimatfreak?
Irgendwann schrie es in mir: Keine starren französischen Rezepte mehr! Ich bin Peruaner! Mein Gaumen will Fisch und Chili! Also bin ich nach Singapur und Thailand gereist. Dieses Improvisieren, diese Kontraste und starken Geschmäcker, toll. Danach wusste ich: Jetzt kannst du dein Ding in Peru durchziehen. 2008 haben wir mit dem »Central« angefangen, meine Frau, meine Schwester und ich, ohne Hilfe, ohne viel Eigenkapital.

Elegant und dennoch gemütlich: das Restaurant / © Ian Boggio, beigestellt
Elegant und dennoch gemütlich: das Restaurant / © Ian Boggio, beigestellt

Machen Sie traditionelles Pachamanca, ­kochen Sie Fleisch mit Kartoffeln und Mais in einem Erdloch mit heissen Steinen?
Nein. Man kann in einem Restaurant in ­einer Großstadt nicht einfach ein Loch buddeln und darin kochen. Manche Kollegen servieren Töpfe mit heißen Steinen drin, Mini-Pachamanca. Das ist Quatsch. Wir übernehmen Produkte und Rezepte, benutzen aber andere, moderne Techniken.

Lateinamerikanische Küche ist in, und Sie sind Nutznießer. Jubeln Sie?
Die Traditionen in Peru sind kein Trend. Ich hoffe inständig, dass peruanische Köche sich nicht prostituieren, weil es diesen Boom gibt.
 
Haben Sie Angst, dass es der peruanischen Küche so geht wie der mexikanischen, die aufs Schlimmste banalisiert wird durch ­Industrie-Tacos und Pseudo-Guacamole?
Es ist nicht schön, wenn jemand peruanische Gerichte verhunzt, um Geld zu verdienen. Auf der anderen Seite haben Starköche wie Daniel Boulud in New York Ceviche auf der Karte, unsere roh in Limettensaft gegarten Fischgerichte. Das ist toll!

Ist da eine Rivalität unter lateinamerikani­schen Köchen?
Es gibt einen freundschaftlichen Wettkampf zwischen Gastón Acurio, Alex Atala und mir. Ich weiß: Wenn Amerikaner oder Japaner nach Brasilien reisen, um dort zu essen, ­kommen sie dafür auch nach Peru. Wir ­pro­fitieren alle.

Die Cold Cream mit »oca« – ein Produkt, das 3900 Meter über dem Meeresspiegel geerntet und verarbeitet wird / Foto beigestellt
Die Cold Cream mit »oca« – ein Produkt, das 3900 Meter über dem Meeresspiegel geerntet und verarbeitet wird / Foto beigestellt

Es ist noch nicht lange so, dass man in Peru entspannt Gourmeturlaub machen kann ...
Die 80er- und 90er-Jahre waren eine schwierige Zeit. Die Inflation! Stellen Sie sich vor, Sie sind zehn Jahre alt, kriegen Taschengeld und zwei Tage später ist es nur halb so viel wert. Und wir hatten politischen Terror, Probleme mit Drogenkartellen und mit kriminellen Banden. So eine hat 1996 meine Mutter und meine Schwester entführt. Zwei Tage waren sie verschwunden. Dann hat man sie am Straßenrand gefunden. Die Gangster haben ihnen alles weggenommen, ihnen aber nichts getan. Jetzt ist alles besser.

Gab es gute Restaurants vor 25 Jahren?
Ja, Javier Wong und seine »Cevichería«. Wong ist eine Kultfigur. Er hat mir alles über ­Ceviche erklärt. Ich habe viel im Ausland ­gegessen; mein Vater hat mich auf seine Fressreisen mitgenommen. 1989 waren wir in New York im »Lutèce«, dem damals
besten Restaurant der USA. Hier dachte ich zum ers­ten Mal, dass ich Koch werden könnte. Ich habe mir als Schüler dann meinen Ketchup selber gemacht und Kochbücher bestellt. In den Sommern, die wir in unserem Haus am Meer verbrachten, hing ich an den Lippen der Fischer und habe am Strand ein Pop-up-Restaurant gemacht.

Dann waren Ihre Eltern vorgewarnt ...
Meine Mutter ist Künstlerin und sagte immer: »Tu, was dich glücklich macht.« Mein Vater ... schwieriger. Er hätte nichts dagegen gehabt, wenn ich Profifußballer geworden wäre. Ich war talentiert, die 10 bei Deportivo Zuñica. Als ich dreizehn war, riefen die Scouts von den großen Clubs an. Ich wollte aber lieber Skateboard fahren als zweimal am Tag trainieren. Ich interessiere mich immer noch für Fußball. Claudio Pizarro von den Bayern ist ein Freund von mir.

Und dann?
Ich sollte Anwalt werden wie mein Vater und meine Brüder. Drei Semester habe ich Jura studiert. Als ich in der Schlange stand, um die Gebühr für das vierte Semester zu bezahlen, wurde mir klar: Stopp! Du wirst Koch! Ich gab meinem Vater das Geld zurück. Er war geschockt. Meine Mutter hat gelacht.

15 Jahre später haben Sie drei Restaurants, zwei in London und eines in Lima. Gerade Letzteres ist sehr teuer. In Deutschland ­kostet ein Sterneessen maximal ein Zwölftel eines durchschnittlichen Monatslohns. Bei Ihnen ist es ein Viertel! 100 Euro – in Peru! Sind Sie geldgierig?
Wir sind teuer, ja. Trotzdem verdiene ich nichts mit dem »Central«. Wir haben 65 Mitarbeiter für 65 Gäste! Ich gehe oft von der ­Küche ins Restaurant. Wenn ich da einen Peruaner sitzen sehe, der jeden Löffel andächtig in den Mund schiebt und nur ein einziges Glas Wein trinkt, weiß ich, dass er lange gespart hat. Solche Gäste lade ich ein. Mein Finanzmanager schimpft immer mit mir, weil wir keinen Profit machen. Ich bin Idealist.

»Coca Bread« by Martínez, gemacht aus Weizen- und Coca-Mehl / Foto beigestellt
»Coca Bread« by Martínez, gemacht aus Weizen- und Coca-Mehl / Foto beigestellt

Woher kommt dann das Geld?
Aus London. Wir machen gutes Geschäft mit dem »Lima« und haben gerade ein zweites Restaurant aufgemacht, das »Floral«. Ich arbeite mit zwei venezolanischen Partnern zusammen, die sich ums Finanzielle kümmern. Ich bin dreimal im Jahr in London. Ich bezahle ­unsere Träume in Lima mit dem Geld aus London.

Was hat sich verändert, seit das »Central« die Nummer eins in Lateinamerika ist und die Nummer 15 auf der weltweiten Liste der 50 besten Restaurants?
Reservierungswahnsinn! 400 Mails am Tag mit Anfragen und genauso viele Anrufe.
60 Prozent der Gäste sind aus dem Ausland. Der Stress scheint jung zu halten. Viele Gäste sagen zu mir: Señor Martínez, Ihr Vater ist ein toller Koch!

Warum machen Sie keine Meerschweinchen?
Ich mag Cui. Cui hat einen tollen Geschmack und eine tolle Textur. Es ist für uns wie ­Kaninchen für euch Europäer. Ich bin nur noch nicht dazu gekommen, die Gegend zu erkunden, wo man die besten Meerschweinchen bekommt und wo es eine Tradition bei der Zubereitung gibt. Ich hänge immer noch bei den rund 3000 Kartoffelsorten fest.

INFO
Central
Calle Santa Isabel 376
Miraflores, Lima 18, Peru
T: +51 1 2428515
reservas@centralrestaurante.com.pe
centralrestaurante.com.pe

Interview von Christoph Teuner
Aus Falstaff Deutschland Nr. 01/2015   

Christoph Teuner
Christoph Teuner
Redakteur
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