Handelsrouten, Allianzen, Kriege und die eine oder andere Revolution: All das prägte die Aromen der Wiener Küche mehr als kulinarische Begabung.

Handelsrouten, Allianzen, Kriege und die eine oder andere Revolution: All das prägte die Aromen der Wiener Küche mehr als kulinarische Begabung.
© Honey & Bunny | Ulrike Köb | Daisuke Akita

Honey & Bunny: Wien war zuerst Chicago

Welche Stadt hat schon eine eigene, eng umgrenzte kulinarische Identität, wie sie die »Wiener Küche« bietet? Dass diese zum Gutteil historischen Zufällen und Einfluss von außen zu verdanken ist, verdrängen Wiener gern. Dabei wäre es gut, sich gerade jetzt darauf zu besinnen.

Paris hat eine Wurst und Peking eine Ente. Der Hotdog lässt sich recht lässig »New York Style« verzehren. Aber nur das alte Wien nimmt für sich in Anspruch, als Stadt eine eigene Küche zu haben. Wer hat das schon? London, Berlin, Rom sind echte Weltstädte, aber sie müssen sich mit englischer, deutscher, italienischer und internationaler Küche begnügen.

Üblicherweise werden Zubereitungsstile nach Regionen benannt. Das kann dann baskische, skandinavische, kantonesische oder schlicht französische Küche heißen. Nationen nehmen oft und gerne für sich in Anspruch, kulinarisches Erbe benennen zu müssen. Essen soll nationale Identität oder mitunter eine gesellschaftliche Aufbruchstimmung schaffen. Frankreichs König Henri IV. versprach seinen Untertanen um 1600 ein wöchentliches »Poule au pot« (Huhn im Topf). Der Monarch wird bis heute als »guter König« bezeichnet und das Huhn stiftet französische Identität, ob als Coq au Vin oder als Emblem auf den Dressen der Fußballnationalmannschaft. 

Als Ungarns liberalere Adelige 1848 gegen die Habsburger revoltierten, entdeckten sie ein bis dahin verabscheutes Bauerngericht für sich, nämlich das Gulasch. Kurzerhand wurde der Eintopf aus Zwiebeln, Paprika und vielleicht Rindfleisch zum Nationalgericht hochstilisiert. Damit sollten die Massen für einen gemeinsamen Aufstand gewonnen werden. Diese Revolution ist gescheitert, das Gulasch blieb.

»Typisch Wienerisch« ist an der Wiener Küche vor allem, dass ihre Speisen und kulinarischen Traditionen überall, nur nicht innerhalb der Stadtgrenzen ihren Anfang nahmen.
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»Typisch Wienerisch« ist an der Wiener Küche vor allem, dass ihre Speisen und kulinarischen Traditionen überall, nur nicht innerhalb der Stadtgrenzen ihren Anfang nahmen.

Schmelztiegel-Identität

Wien war damals sogar großzügig und hat das Gulasch in die eigene städtische Identität integriert. Heute ist die einstige Revoluzzerspeise aus der Wiener Küche nicht mehr wegzudenken. Perfekte kulinarische Migration passierte auch bei gesottenem Rindfleisch und der dabei entstehenden Suppe (aus Spanien), dem Schnitzel (Byzanz, Venedig, Mailand), dem Strudel (Zweistromland, Balkan) oder dem Marillenknödel (China, Mauritius, Böhmen). Fusionsküche ist also längst kein Kind der Achtzigerjahre!

Aber warum gerade Wien? Zwar war die Stadt zur vorletzten Jahrhundertwende mit mehr als zwei Millionen Einwohnern ebenso eine Weltmetropole wie Berlin, Paris oder London. Doch auch wenn Wien heute im internationalen Vergleich längst zu den »kleinen« Millionenstädten gehört, bildet sie sich nach wie vor viel auf ihre Küche ein und lässt dabei den Rest Österreichs links liegen. Ein klein wenig hauptstädtische Arroganz könnte als Grund dafür angeführt werden. Vielleicht entspringt die Wiener Leidenschaft, sich nach wie vor groß zu fühlen, auch der Eigenschaft, sich selbst nicht allzu ernst zu nehmen?

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Handelsweg in den Magen

Abgesehen von der bewegten Geschichte Wiens und dem Umstand, dass diese Stadt auch heute noch eine Metropole inmitten einer diversen und vibrierenden Region ist, war Wien jahrhundertelang kulinarischer Brückenkopf. Diese Stadt liegt im äußersten Osten des Westens. Die fruchtbaren Böden entlang der Schwarzmeerküste bescherten massenhaft Getreide. Istanbul, einst wichtigste Handelsmetropole an der ­eurasischen Schnittstelle, lieferte Reis, Zucker und Gewürze. Anfänglich dominierte der Handel zwischen der hohen Pforte und dem habsburgischen Reich. Er sollte die Wiener Küche massiv beeinflussen. Der Zuckerkonsum in Österreichs Hauptstadt war enorm und europaweit einzigartig. Noch heute riecht die Stadt nach Zuckerbäckerei.

Nach der zweiten Türkenbelagerung veränderte sich die Nahrungssituation. Das Habsburgerreich expandierte in Richtung Osten und eroberte unter anderem Ungarn. Damit gelangten Fleischberge in ihren Besitz. Die riesigen Steppen östlich von Wien waren Heimat nomadisierender Hirten und deren Rinderherden. Mangels natürlicher Barrieren konnten Kühe und Stiere problemlos nach Wien getrieben und dort geschlachtet werden. Die Schlachthausgasse im Osten der Stadt existiert bis heute.

Erst viel später perfektionierte man diese Frischfleischidee in Chicago – Cowboys trieben Rinderherden aus den Plains in die Stadt. Oft waren sie wochenlang unterwegs. In Chicago schlachtete man die Rinder in großem Stil und erfand dabei gleich das Förderband und die Fabrik. Aber: Wien war zuerst Chicago! Denn der Speiseplan der Menschen hatte sich wegen der Eroberung Ungarns und des damit günstig(er) verfügbaren Rindfleischs stark verändert. Während im 18. Jahrhundert in Europa Schweine- und Hühnerfleisch dominierten, verspeiste man hier gesottenes Rindfleisch, Gulasch – und danach bergeweise Zucker.

Und heute? Zweifellos bedarf es einer Diskussion darüber, wie Städte nach den Prinzipien sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit mit Essen versorgt werden können. Auf Wiener Stadtgebiet wird im Vergleich ziemlich viel angebaut. Keine Stadt produziert so viel Gemüse, Getreide und Wein. Das ist beachtlich – aber nicht genug. Es sollte darüber nachgedacht werden, wie Land genutzt und Kreativität eingesetzt werden kann. Eine Stadt kann das, denn Städte beherbergen Diversität. Metropolen wie Wien positionierten sich an Schnittstellen kultureller und biologischer Vielfalt. Sie kooperieren mit ihrem Umland. Und genau das ist das Potenzial.

Wenn sich Stadt und Land gemeinsamer Innovation verpflichtet fühlen, Grenzen missachten und Ungedachtes hervorbringen, lässt sich eine angemessene Zukunft bewerkstelligen. Amsterdam oder Kopenhagen machen neue Kooperationen von Urbanität und ländlichem Raum längst vor. Auch in Wien passiert Vieles. Start-ups produzieren Lebensmittel mitten in der Stadt. Gastronomen kooperieren mit Produktionsbetrieben und am Zukunftshof von Schneckenzüchter Andreas Gugumuck wird intensiv über Urban Food nachgedacht. Wien hat wieder einmal Potenzial.


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Honey & Bunny

Sonja Stummerer und Martin Hablesreiter studierten Architektur. Während eines Arbeitsaufenthalts in Tokio begannen sie sich für Food-Design zu interessieren, seither gestalten und kuratieren sie Ausstellungen und Filme, realisieren »Eat-Art-Performances« und schreiben bzw. illustrieren Bücher.


Sonja Stummerer
Martin Hablesreiter
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