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FRAG DEN KNIGGE! Darf ich vom Teller anderer probieren?

Feinschmecker Christian S. aus Wien probiert gerne auch vom Nachbarteller. Für Knigge eine Frage internationaler Esskultur.

»Lieber Herr Knigge, wir sind eine kleine Kulinarik-Runde und lieben es, zusammen die Qualität von neuen Restaurants zu testen. Für einen guten Querschnitt probieren wir gerne auch die Speisen von den jeweils Anderen. Dies sorgte auch schon für naserümpfende Reaktionen beim Service. Ist es denn ein Fauxpas, Gerichte von Freunden zu probieren?« 
Feinschmecker Christian S., Wien

Seit mehr als 50 Jahren wartet das Restaurant Canlis in Seattle darauf, 1.000 Dollar loszuwerden. Denn wer dort die Rechnung des Hauses mit dem Vermerk »Don’t come back« vorzeigt, bekommt den Betrag umgehend ausgezahlt. »Bitte beehren Sie uns nie wieder!« Wer sich nicht benimmt, bekommt die Rote Karte. Auf Platz eins des schlechten Benehmens: »Probieren von anderen« werde mit lebenslanger Tiefkühlkost bestraft. Das wohl populärste Gerücht in der Spitzengastronomie.
»Unfug« sagen die Renommierten der kulinarischen Zunft. Gemeinsam Essen gehen ist eben nicht nur Essen sondern gemeinsam. In allen kulinarischen Hochkulturen ist der Genuss ein gemeinschaftlicher. Schon mancher hat ein Geschäft in China nicht gemacht, weil er statt dem Ruf des Gastgebers zum gemeinsamen Abendessen zu folgen meinte, die Business-Präsentation vorbereiten zu müssen. In Frankreich ist es Tradition, die neuen Nachbarn zum Aperitif einzuladen, weil gemeinsames Essen und Trinken kleingeistige Streitereien minimiert.

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Ob mit Händen von gemeinsamen Platten in Addis Abeba, mit Stäbchen in Bejing, mit der Meeresschneckengabel an der Côte d’Azur, in der Tapas Bar in San Sebastian, Essen ist immer ein Gemeinschaftsprojekt und noch heute gilt das Füttern des anderen im Orient als größter Freundschaftsbeweis.
Wer vom Teller des anderen probiert und probieren lässt, der lässt die Gemeinschaft und den Genuss hochleben. Gut so. Frei nach dem Motto des großen Lehrmeistes Jean Anthelme Brillat-Savarin: »Die Entdeckung eines neuen Gerichts ist für das Glück der Menschheit von größerem Nutzen als die eines neuen Gestirns.« Und wo ließe sich ein neues Gericht besser entdecken als auf dem Teller der anderen?


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