Cem Ekmekcioglu und Paul Ivić im Wiener »Tian« – über ­Verzicht, der keiner ist.

Cem Ekmekcioglu und Paul Ivić im Wiener »Tian« – über ­Verzicht, der keiner ist.
© Ian Ehm

Fleischbeschau im »Tian«

Kaum ein Lebensmittel ist so beliebt und zugleich so umstritten wie Fleisch. Doch wie schlägt sich dieser Widerspruch in unserer Ernährung nieder? Ein Gespräch zwischen Mediziner und Küchenchef.

Befeuert durch regelmäßige ­Lebensmittelskandale und Warnungen von Gesundheits-, Tierschutz- und Umweltbehörden scheint die Diskussion zum Thema Fleisch nicht enden wollend. An unserem Essverhalten ändert das bisher aber relativ wenig: Allein der deutsche Ernährungsreport 2017 ergab, dass Fleisch nach wie vor das Lieblingsgericht der Deutschen ist – nur 4,3 % der Erwachsenen ernähren sich laut Robert-Koch-Institut vegetarisch. ­KARRIERE bat ­Ernährungsmediziner Cem Ekmekcioglu und Koch Paul Ivić um ihre Einschätzung zur Fleisch­lage der Nation.

KARRIERE Der »Schweizer Tagesanzeiger« schrieb kürzlich, dass der Fleischkonsum in der Schweiz nicht mehr »en vogue« sei. Wenig später sorgte in Österreich eine schwedische Studie für Aufsehen, die besagt, dass hoher Fleischkonsum die Lebenserwartung um 21 Prozent senkt. Wie gut oder schlecht steht es heute um den Ruf von Fleisch?
CEM EKMEKCIOGLU Ernährungsphysiologisch ist Fleisch ein wichtiges Lebensmittel. Studien haben jedoch gezeigt, dass ein zu hoher Konsum von rotem Fleisch und verarbeitetem Fleisch, also Wurst und Wurstwaren, das Sterblichkeitsrisiko erhöht. Seit man sich dessen bewusst ist, wurden die Empfehlungen für den Fleischkonsum angepasst. Die ­Österreichische Gesellschaft für Ernährung empfiehlt zum Beispiel, maximal zwei- bis dreimal die Woche Fleisch zu essen.
PAUL IVI
C
Fleisch hat immer noch einen viel zu guten Ruf. 80 Prozent von dem Fleisch, das uns angeboten wird, ist in meinen Augen keinen Cent wert. Uns wird mit Hormonen und pharmazeutischen Mitteln verseuchtes Fleisch aus Massentierhaltung verkauft. Heute hört man immer: »Ich kann mir das nicht leisten.« Ich glaube, dass wir es uns nicht leisten können, von unserem Essen krank zu werden.

Welchen Einfluss hat der Fleischkonsum ­generell auf unsere Gesundheit?
EKMEKCIOGLU Wir brauchen das hochwertige Eiweiß unter anderem auch in der Wachstumsphase und für das Immunsystem. Dann enthält Fleisch gewisse B-Vitamine, vor allem das Vitamin B12, das wichtige Funktionen für das Zellwachstum und für den Stoffwechsel erfüllt. Hinzu kommen wichtige Mineralstoffe, vor allem Spurenelemente, Eisen und Zink. Ein zu hoher Fleischkonsum erhört allerdings das Risiko für Typ-2-Diabetes, Dickdarmkarzinom und teilweise auch für kardiovaskuläre Erkrankungen. Meines Erachtens brauchen wir Wurst und Wurstwaren nicht, die sind ernährungsphysiologisch besonders ungünstig.
IVIC Die negativen Auswirkungen von Wurst habe ich an meinem eigenen Körper erlebt. Da sind einfach zu viele Zusatzstoffe drinnen, die man nicht klar definieren kann. Allerdings finde ich, dass Ernährung nicht der ­allerwichtigste Faktor für unsere Gesundheit ist, auch Stress spielt eine Rolle.

Was genau macht Fleisch ungesund?
EKMEKCIOGLU Die genauen Mechanismen sind noch nicht ganz entschlüsselt. Der hohe Fettanteil kann etwa Herz-Kreislauf-Erkrankungen hervorrufen. Darüber hinaus schützt Fleisch zwar vor Eisenmangelanämie, aber zu viel Eisen kann im Körper unter Umständen vermehrt oxidativen Stress hervorrufen, der an der Entstehung von Krebs und Arteriosklerose beteiligt ist. Es können aber auch ­toxische Substanzen eine Rolle spielen, die beim Grillen entstehen.

Wer sich gesund ernähren will, sollte besser zu weißem Fleisch greifen, so ein häufiger Ratschlag. Wie sinnvoll ist diese Empfehlung?
EKMEKCIOGLU Es gibt meines Wissens nach nur relativ wenige Studien ... Die Studien zur nachhaltigen Wirkung von Fleisch auf Zivilisationskrankheiten basieren vor allem auf rotem Fleisch und verarbeitetem Fleisch. Es gibt meines Wissens aber relativ wenige Studien, die rotes Fleisch mit weißem Fleisch verglichen haben. Wissenschaftlich gesehen kann man daher nicht ganz sicher sagen, dass weißes Fleisch deutlich besser ist als rotes.

Ständig lebt uns ein anderer Promi den vermeintlich richtigen Ernährungsstil vor, ein Gesundheitstrend jagt den nächsten. Haben wir aufgehört, auf unseren Körper zu hören?
IVIC
Wir haben die Verantwortung schlichtweg an andere übertragen, an unseren Arzt, die Lebensmittel- und Pharmaindustrie. Nach dem Motto: »Die werden das schon für mich richten.« Es ist nichts leichter, als bei Beschwerden zum Arzt zu gehen, niemand hinterfragt mehr.
EKMEKCIOGLU
Es ist sicher richtig, nicht je­dem zu vertrauen. Dafür gibt es seriöse wissenschaftliche Institutionen, an die man sich halten kann. Wer im Internet nach Diäten sucht, hat es sicher schwer, die Spreu vom Weizen zu trennen. Das ist dann auch meine Verantwortung als Ernährungsmediziner, hier evidenzba­sierte, seriöse Empfehlungen auszusprechen.

Wie kann man beim Konsumenten wieder mehr Bewusstsein für Ernährung schaffen?
IVIC Wir sollten aufhören, alles zu ver- und zu beurteilen, und lieber darauf aufmerksam machen, welche natürlichen Ressourcen wir haben und wie wir damit umgehen sollen.
EKMEKCIOGLU Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, wusste man relativ wenig über Ernährung. Die Ernährungswissenschaft hat einiges dazu beigetragen, damit wir heute besser leben, uns besser ernähren und bessere Empfehlungen aussprechen können.
IVIC Die Ernährungswissenschaft mag jetzt deutlich weiter sein als vor 30 Jahren, aber was wird denn heute in den Schulen abgeliefert? Industriell gefertigtes Essen. Das Wissen ist vielleicht da, aber es gehört auch gelehrt, damit sich jeder seine eigene Meinung bilden kann. Wenig Wissen bringt viele Vorurteile.
EKMEKCIOGLU
Im Moment ist das Wissen doch deutlich gestiegen, aber bei der Umsetzung gebe ich Ihnen recht: Aus wirtschaftlichen Gründen ist vieles oft nicht so umsetzbar, wie man es gerne hätte. Außerdem könnte der Informationsfluss deutlich verbessert werden. Konsumenten sind verunsichert, kennen sich nicht aus, wissen nicht, wem sie glauben sollen.

Inwieweit können und sollen hier Gastronomen und Köche in die Pflicht genommen werden?
IVIC
Der Koch hat die weiße Kochjacke nicht aus hygienischen Gründen bekommen oder weil sie lässig ist. Ursprünglich haben Ärzte den Köchen die weiße Jacke verliehen, damit sie das Bewusstsein der Menschen schärfen, wie man mit Nahrungsmitteln seinen Organismus gesund hält. Das war unser Ansatz des Kochberufs, dahin sollten wir zurückkehren.

Worauf kommt es beim Essen denn Ihrer Meinung nach noch an?
IVIC Zum Essen gehört viel mehr als nur der gesundheitliche Aspekt. Essen ist auch etwas Emotionales, Gesellschaftliches. Wir sollten das Essen wieder mehr genießen, selbst kochen und auf verarbeitete Nahrungsmittel weitgehend verzichten.
EKMEKCIOGLU Rein medizinisch sollte man sich ausgewogen ernähren mit einem Fokus auf Obst und Gemüse. Auch langsam zu ­essen, ist ein Thema: Studien zeigen, dass Schnellesser ein deutlich höheres Risiko für Übergewicht haben.
IVIC
Es sollte jedem klar sein, dass er für sein Wohlbefinden selbst die Verantwortung trägt. Wir müssen mit unserer Ernährung ­offen, aber dennoch kritisch umgehen.

Was denken Sie, wie wird sich der Stellenwert von Fleisch in unserer Ernährung ­weiterentwickeln?
EKMEKCIOGLU In einer Wohlstandsgesellschaft hat Fleisch einen wichtigen Stellenwert. Ernährungsphysiologisch ist klar, dass man den Fleischkonsum einschränken soll, das gilt vor allem für Erwachsene. ­Zunehmend wichtiger wird auch der klima­tische Aspekt. Rotes Fleisch ist ein extremer Treib­hausgas­lieferant, das sollten wir berücksichtigen.
IVIC Ich glaube, dass die Nachfrage nach fleischlosen Gerichten in der Gastronomie steigen wird. Wenn ich mir für die Zukunft etwas wünschen könnte, wäre das, dass der Fokus wieder auf die Qualität gerichtet wird. Das gilt für alle Bereiche, nicht nur für Fleisch. Wir müssen mit Mensch, Tier und Nahrung wieder verantwortungsvoll umgehen – weg von der Massentierhaltung und weg von Obst- und Gemüseanbau mit Pestiziden und Herbiziden.

Die Interviewpartner

Paul Ivić
Geschäftsführer und Küchenchef im ­Wiener Gourmetrestaurant »Tian«, das bis dato als einziges vegetarisches Restaurant Österreichs mit einem Michelin-Stern und drei Gault-Millau-Hauben ­ausgezeichnet wurde. Falstaff-Wertung: drei Gabeln. Ivić selbst ist kein Vegetarier, jedoch dezidierter Gegner von Massentier­haltung und denaturierten Nahrungsmitteln.

Ao. Univ.-Prof. Dr. med. Cem Ekmekcioglu
Ist Mediziner, Wissenschaftler, Ernährungs­experte und Autor zahlreicher medizinischer Fach­publikationen sowie populärer ­Ernährungs- und Gesundheitsratgeber. Der Deutsche mit türkischen Wurzeln ­lehrt und forscht seit vielen Jahren an der Medizinischen Universität Wien.
www.ekmekcioglu.at

Fünf Jahre »Tian«

Das »Tian« hat sich schnell vom Restaurant zur Veggie-Lifestyle-Marke entwickelt. Das Interieur des Restaurants (das erste eröffnete in der Wiener Himmelpfortgasse im 1. Bezirk) ist stylish, die Karte experimentell. Es folgten Hauben, Sterne, Gabeln – und weitere Standorte in Wien (zwei Bistros) und München. Das Team rund um ­Küchenchef Paul Ivić schafft, was andere nur ­versuchen: Es überzeugt auch Nicht­vege­tarier und macht die Großstädter zu begeisterten Flexitariern. Ivić selbst gilt als Qualitäts­fetischist und hält dem Wiener »Tian« seit Anbeginn die Treue. 2015 erschien sein Kochbuch »Vegetarische Sommerküche« ­(Brandstätter Verlag).
www.tian-restaurant.com

Interview »Fleischbeschau« aus Falstaff KARRIERE 01/2017. Von Sonja Planeta.

Sonja Planeta
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