© Gina Mueller

Essay: Der Sommelier und der Reiseführer

Der Sommelier ist so etwas wie ein Reiseführer – nicht nur für den Weinkenner, für den sich jeder hält, sondern auch für den Weintrinker, der jeder ist.

Tatsächlich finden sich der Wanderer mit dem Reiseführer und der Weintrinker mit seinem Sommelier gut zurecht. Die beiden scheinen alles zu wissen, ihre Sprache ist geradezu wissenschaftlich-poetisch. Sie kennen sich wirklich aus und waren schon überall, wo der Wanderer oder der Weintrinker nur durch Zufall vielleicht schon einmal gewesen sind.

Nicht selten verhalten sich Sommelier und Reiseführer wie Magier, wenn sie die Tricks und die Kunststücke der Natur oder die historischen Legenden und Mythen von Städten durchschauen und an ihre Wein­trinker und Wanderer weitergeben.

Weshalb hat der Sommelier den Weintrinker nicht gewarnt?

Sobald jedoch der HORIZONT erreicht ist, beweisen uns Sommelier und Reiseführer, dass sie tatsächlich Zauberer sind, denn beide sind plötzlich verschwunden. Wein­trinker und Wanderer müssen von nun an den Weg alleine gehen. Aus der heiteren Gemütslaune, der Freude über das Gesehene und Gefühlte wird allmählich Müdigkeit, manchmal Schwermut und sogar Zorn, und plötzlich stehen Wanderer und Weintrinker vor einem schwarzen Abgrund. Der Weg zurück ist wegen der hereinbrechenden Nacht nicht mehr zu sehen. Um wieder zum Ausgangspunkt zu gelangen, müssten sie die senkrechte Felswand, vor der sie stehen, hinunterklettern. Allein bei dem Gedanken wird ihnen schwindlig. Sie sollten sich jetzt besser ausrasten oder schlafen, vielleicht bis zum nächsten Tag, doch sind sie so unsicher auf den Beinen und erschöpft, dass sie nicht wissen, »wo ihnen der Kopf steht«. Deshalb entscheiden sich Wanderer und Weintrinker, weiterzumachen, bis sie, wie nicht anders zu erwarten, den Halt verlieren und abstürzen.

Weshalb hat der Sommelier den Weintrinker nicht gewarnt? Weshalb hat er seine Arbeit so plötzlich beendet und sich in Luft aufgelöst? Es gibt ja Landschaften, die weniger anstrengend sind, es kommt sogar vor, dass ein Weintrinker dort plötzlich fliegen kann … Oft genug will der Unglückliche jedoch Landschaften kennenlernen, in denen ein Absturz unvermeidlich ist, weil er dafür nicht genügend ausgerüstet ist.

Er weiß vor allem nicht das Wichtigste: Ein Sommelier VERKOSTET nur. Es geht ihm ausschließlich um Duft und Geschmack des Weines, auch wenn diese nicht selten der Chemie geschuldet sind … Natürlich hat er die Schwierigkeitsgrade der Wanderungen und Besteigungen in seinem Führer festgehalten, waren doch seine Erläuterungen zusätzlich mit Prozentangaben versehen, welche die Gefahren der Routen aufzeigen: je höher die Prozente, desto schwieriger der Wanderweg. Aber Prozente allein geben keine vollständigen Auskünfte, sondern sind bloß Hinweise.

© Gina Mueller

Das Schönste am Wein ist die Euphorie, die er auslösen kann

Es fehlt (verständlicherweise) die Prozent­angabe der im Wein enthaltenen chemischen Stoffe. Zumindest eine Anmerkung darüber, wie verträglich das Getränk für den Sommelier war, wäre aber angebracht, auch wenn sie jetzt den Winzer – anstelle des Weintrinkers – schmerzen würde. Es gibt wunderbar duftende und schmeckende Weine, bei denen man nach, sagen wir, einer 7/10-Flasche am Morgen als kranker Mensch erwacht. »Alles schmerzt, jedes Geräusch, das Licht … Wer kennt das nicht?«

Und es gibt Weine, die ebenfalls sehr gut duften und schmecken, aber bei denen man nach dem Genuss der 7/10-Flasche vielleicht durstig und müde erwacht, jedoch spätestens nach einer Stunde wieder der Alte ist. (Oder auch der Junge.)

Das Schönste am Wein ist, wie alle wissen, die Euphorie, die er auslösen kann. Trinkt man keinen schweren Wein und »gießt« das »Gartenbeet« Magen nicht ununterbrochen mit einem Schlauch,
sondern mit der sanften Brause aus einer Kanne, kann man erleben, wie die paradiesischen Blüten der Euphorie sich duftend öffnen und der Zauber lange anhält, soferne man sich als Weintrinker einiger­maßen selbst kennt.

Wer sich mit Alkohol nur betäuben will oder bedauerlicherweise sogar muss, braucht keinen Sommelier. Jemand, der ans Meer fährt, nur um braun zu werden, und sogar in Kauf nimmt, dass er sich einen Sonnenbrand holt, benötigt ohnedies keinen Reiseführer.

Kurz gesagt: Der NEUE SOMMELIER sollte sich vor der Beschreibung eines Weines zusätzlich Zeit nehmen, um dessen Nachwirkungen kennenzulernen, und erst dann berichten, wie er duftet, mundet und welche Verträglichkeit er hat. Das würde einen Weintrinker wohl mehr interessieren als Geruchs- und Geschmacksvergleiche zum Beispiel mit einem verbrannten Autoreifen, Verrostungen, einem aufgeschlagenen Wachtelei oder Drosselzungen.

Erschienen in
Falstaff Nr. 07/2018

Zum Magazin

Gerhard Roth
Mehr entdecken
Mehr zum Thema