Dreiländereck: Berauschende Randerscheinung

Zum Markgräflerland in Deutschlands Südwesteck gehört der Gutedel wie der Riesling zum Rheingau. Nur ist er nicht so bekannt.

Verwitterte Stufen aus Stein führen hinab zum Keller, nach einem guten Dutzend großer Schritte ist man unten. Knarrend schwingt die alte Holztür zur Seite, und die Augen beginnen im Dunkel des geöffneten Raums nach einem Umriss zu suchen, nach einer Spur von Licht. Nur langsam zeichnet sich eine Reihe von Fässern ab, doch da hat der Winzer Lothar Heinemann auch schon die Deckenbeleuchtung angeknipst.

Fast 40 Jahre alter Gutedel
Die kühle, feuchte Luft hier unten riecht rein und frisch. Gleich rechts hinter der Tür zieht ein Steinregal voller staubiger Flaschen den Blick auf sich, an jedes Fach ist ein Zettel mit einer Jahreszahl geheftet. Vor dem Regal steht ein gestürztes Fass, darauf ein Kerzenständer und eine Handvoll Kalksteine. Und eine Flasche: Gutedel, Jahrgang 1976, Kabinett, aus der Lage Scherzinger Batzenberg.

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Liaison in stillem Gebiet
Der Gutedel und das Markgräflerland, das ist eine Liaison wie zwischen Riesling und Rheingau, wie zwischen Silvaner und Franken – nur mit weniger Prestige. Auch innerhalb der Perlenkette badischer Weinbaugebiete, die sich von der Ortenau im Norden bis zum Bodensee über mehr als 300 Kilometer den Rhein entlang zieht, ist das südlich von Freiburg bis zur Schweizer Grenze bei Basel gelegene Markgräflerland ein eher stilles Gebiet. Dabei hat der Weinbau hier in der Vorbergzone des Südschwarzwalds eine lange Geschichte. Schon die Römer nutzten die Thermalquellen bei Badenweiler, und sehr wahrscheinlich bauten sie dort auch Wein an. Im Mittelalter war die Gegend ein Meer aus Burgunderreben – und brachte vor allem Rotwein. Dass dieser in hohem Ansehen stand, belegt die Tatsache, dass selbst das Bistum Konstanz und das Kloster St. Gallen – beide rund 200 Kilometer entfernt – Weinberge im heutigen Markgräflerland besaßen. Ihren Namen erhielt die Region von ihrem wichtigsten Förderer: Markgraf Karl Friedrich von Baden brachte im Jahr 1780 Reiser des Chasselas, also Gutedels, vom Genfersee in seine südliche Provinz. Drei Jahre später hob er die Leibeigenschaft auf, so wurde der Gutedel zum Begleiter und zum Garanten der bäuerlichen Selbstständigkeit.


Lothar Heinemann: »Es gibt auch hervor­ragende Südlagen« / Foto: beigestellt

Reben, so weit das Auge reicht
Zurück in den Keller von Familie Heinemann: Mit einer reifen, aber lebendigen gelbgoldenen Farbe fließt der 1976er ins Glas. Im Duft zeigt der fast 40-jährige Wein eine edle Firne über einer noch immer traubigen Frucht, und keinerlei Oxidation. Der Gaumeneindruck ist rund und voll und hat geradezu etwas Burgunderhaftes. Und das von einer Lage, die sich über fünf Gemeinden und annähernd 300 Hektar erstreckt und einen eher durchwachsenen Ruf hat. »Fahren wir mal hin«, schlägt Lothar Heinemann vor, und schon wenige Minuten später kommt der Wagen des Winzers am höchsten Punkt des Batzenbergs zum Stehen. Reben, so weit das Auge reicht, 360 Grad ringsum, selbst die nördlichen Hänge sind bestockt. »In den Mulden gibt es aber auch hervorragende Südlagen«, erläutert Heinemann, »und der Boden ist vor allem in den höher gelegenen Parzellen voller Kalkstein.« Ein paar hundert Meter weiter zeigt der Winzer eine solche Parzelle mit alten Chardonnay-Reben. Hier hat er sogar Hagelnetze installiert, »ein Feuerwehr-Kollege aus dem Nachbarort« hat die Konstruktion eigens für den Weinbau erfunden. Beidseitig überspannen die Netze die Laubwand und gewähren auf diese Weise Schutz vor Unwettern. Für Arbeiten am Laub oder an den Trauben lassen sich die Netze hoch- und runterrollen. 15 bis 20 Jahre dauert es, bis sich die Investition amortisiert hat. Liebevoll streicht Heinemann über die Textilie aus Kunststoff, und es ist klar: Es geht ihm nicht um gesparte Versicherungsprämien, sondern um die wertvollen Trauben, die er mit dieser Parzelle gewinnt.

Schindler gerät in Rage
Gerd Schindler beim Gutedel-Cup 2013 / Foto: beigestelltAuch weiter südlich im Markgräflerland ist es der Kalkanteil im Boden, der die Weine zum Klingen bringt. Gerd Schindler vom Weingut Lämmlin-Schindler aus Mauchen streift durch seine Paradelage Frauenberg und zeigt auf eine kleine Pflanze mit einem Kranz weißer Blüten, die am Rand seines ökologisch bewirtschafteten Weinbergs wächst: »Das ist der doldige Milchstern, ein kalkanzeigendes Zwiebelgewächs.« Dann läuft der Winzer hangaufwärts in eine Rebzeile und erklärt, wie er Brennnesseln und Gras unter den Stöcken mit einem speziellen Pflug entfernt: Dank eines Federmechanismus klappt die Pflugschar im Raum zwischen den Stöcken aus. Nähert sich die Pflugschar einem Stock, sorgt der Mechanismus dafür, dass sie einklappt, bis sie am Stamm vorbei ist. »Man muss zwar ganz langsam mit dem Traktor fahren, aber immerhin lässt sich diese Arbeit mechanisieren.« Der Standard in den konventionell bewirtschafteten Parzellen vieler Nachbarn ist ein anderer: Bräunlich verdorrtes Gestrüpp belegt den Einsatz von Herbiziden. Ein Winzer hat sogar den Rand des Fahrwegs mit Herbiziden abgespritzt, statt das Gras zu mähen. »Eine Sauerei!«, entfährt es Gerd Schindler – einem Winzer, der ganz sicher nicht leicht aus der Ruhe zu bringen ist.

Gewölbekeller des Weinguts Ziereisen in Efringen-Kirchen / Foto: beigestellt

Hochpreisiger Sechs-Euro-Wein
Die Krux des Markgräfler Weinbaus sind die tiefen Preise, die sich für den Brot- und Butterwein Gutedel erzielen lassen: Bereits sechs Euro gelten als hochpreisig, vier Euro sind die Regel. Burgundersorten erlösen etwas mehr, bringen aber nur in den allerbesten Lagen gute Resultate. Es ist wohl vor allem diesem ökonomischen Druck zuzuschreiben, dass der eine oder andere Betrieb lieber Herbizide spritzt als zu mähen – und wohl darum sind die Erträge oft höher und auch häufiger Voll­ernter im Einsatz, als es wünschenswert wäre. Ein Teufelskreis, denn so bleibt der Ruf des Markgräfler Weins in einer dauerhaften Unterschätzung gefangen.

Vom Schreiner zum Weinbau-Genie
Einer, der für sich selbst einen radikal anderen Weg eingeschlagen hat, ist Hanspeter Ziereisen aus Efringen-Kirchen. Der Qualitätsfanatiker, im Erstberuf Schreiner, der im In- und Ausland vor allem für seine fulminanten Spätburgunder gefeiert wird, hat sich alles andere als vom Gutedel abgewandt. Vielmehr produziert er neben einfachen, süffigen Basisweinen den Lagen-Gutedel »Steingrüble«, den er 22 Monate im Fass ausbaut. Und es gibt sogar noch einen Gutedel darüber: die Selektion »Jaspis« aus alten Reben. Ziereisen, der nicht nur ein Weinbau-Genie ist, sondern dem auch der Schalk mächtig im Nacken sitzt, schenkt aus Karaffen drei Weine in drei Gläser ein: Bei zweien, so lässt er wissen, handle es sich um eigene Gutedel, der dritte ist ein Bâtard-Montrachet – alle drei seien 2011er.

Weinbaugenie Hanspeter Ziereisen / Foto: beigestellt

Erwartungsvoll legt der Winzer den Kopf schief. Der Wein im linken Glas ist ganz sicher ein Gutedel, wenngleich ein exzellenter: straff gebaut und saftig. Der rechte könnte der Burgunder sein, denn unter seiner dichten Stoffigkeit liegt ein recht opulenter Hintergrund. Der beste Wein aber steht ganz klar im mittleren Glas: vibrierend vor Kalk-Mineralität, streng und unnahbar mit immensem Potenzial. Vielleicht ist doch das der Burgunder? Ach nein? Das ist doch der «Jaspis«! »Das ist meine Kommaverschiebung«, freut sich Ziereisen. Denn für diesen Gutedel verlangt er nicht wie für »Steingrüble« 12,50 Euro, sondern 125 Euro. Viel Geld – aber trotzdem nur ein Drittel des Preises, den der Burgunder kos­tet.

Schon in der Nachbarschaft sind solche Preise unvorstellbar. Familie Huck-Wagner wohnt und arbeitet am Ortsrand von Efringen, gleich hinter dem Haus erhebt sich steil der Ölberg. Wie der aromatische rote Gutedel aus einer Gutedel-Spielart mit leicht gefärbten Beeren beweist, versteht sich auch Christiane Huck-Wagner aufs Weinmachen. Als Weinbau-Technikerin mit Kreuznacher Abschluss ist sie die einzige Frau, die im Markgräfler Weinbau einen Betrieb leitet und dabei im Keller Hand anlegt. Wie lange lässt sich die Familientradition zurückverfolgen? »Ein Teil des Gebäudes soll schon im Dreißigjährigen Krieg gestanden haben. Eigentlich war die Familie immer schon hier, wenngleich der Familienname immer mal wieder gewechselt hat.« Da kommt ihr Ehemann Roland Wagner mit einer gerahmten Urkunde aus dem Jahr 1906: Der landwirtschaftliche Bezirks-Verein Lörrach verleiht dem Weingut Huck-Müller ein Diplom für den ausgestellten Efringer Wein aus – wie es heißt – »Lage I. Ranges«. Eine so frühe Klassifikation in Südbaden – wer hätte das gedacht? Auch wenn der benachbarte Isteiner Klotz – ein leuchtend weißes Kalkmassiv – den Jurakalk sichtbar bezeugt, der sich hier im Boden befindet.
Doch der durchschnittliche Markgräfler Winzer ist Genossenschaftsmitglied und hat Mühe mit dem Auskommen. Selbst eine qualitativ weit aus dem Mittelmaß herausragende Genossenschaft wie diejenige Laufens – noch 2011 vom Branchenblatt »Weinwirtschaft« zur besten WG Deutschlands erkoren – nahm zuletzt Zuflucht in einer Fusion mit der größeren Nachbargenossenschaft in Auggen.
»Es war ein Zusammenschluss auf Augenhöhe«, resümiert Laufens Verkaufsleiterin Petra Sehringer, und dann schaut sie doch etwas traurig drein: »Aber sentimental war das trotzdem.« Eine andere, sehr viel kleinere Genossenschaft versucht durch Verjüngung zum Erfolg zu kommen: Die nur 50 Hektar große WG Haltingen direkt an der Schweizer Landesgrenze setzt seit 2009 auf ein junges und dynamisches Führungsteam mit Kellermeister Markus Büchin, Jahrgang 1979, und Marketingleiter Michael Heintz, Jahrgang 1984.

Vinothek des Weinguts Zotz / Foto: beigestellt

Was den Stellenwert von Erfahrung, gefestigter Wein-Identität und von positiver Routine angeht, da ist das Weingut Dörflinger in Müllheim ein Vorzeigebetrieb. Das Weingut wurde in seiner heutigen Form 1900 gegründet. Während der letzten 40 Jahre hat sich Senior Hermann Dörflinger eine treue Fangemeinde geschaffen, mit einem kompromisslos durchgegorenen Stil. Wer Gutedel in seiner puristischen, terroir-geprägten Form sucht, wird hier fündig – beim würzigen Reggenhag, beim reichhaltigen Römerberg und beim mineralischen Pfaffenstück. Die Probierstube in Müllheims Mühlengasse ist ein Treffpunkt für Professoren und Wanderer, für Bohemiens, Foodies und Weinzähne. Es kann schon sein, dass man bei einem Glas Gutedel dasitzt und plötzlich Stammkunden hereinschneien, die gerade vom Markt in Mulhouse kommen und eine Packung Austern auf den Tisch stellen. Lebensart, Genussfreude und Kultur werden hier eins, stets gut begleitet von einem kräftigen Schluck. Nicht von ungefähr hat Hermann Dörflinger die »Gutedel-Gesellschaft« gegründet, einen Club im Zeichen von Humor und gutem Bürgersinn, der mehrmals jährlich einen gut besuchten Kabarettabend im Neuenburger Stadthaus veranstaltet und sich auch darüber hinaus vielfältig engagiert. Auch ein Gutedel-Preis wird vergeben, und dabei bekamen schon Persönlichkeiten wie Wolfram Siebeck, Elke Heidenreich, Dieter Hildebrandt und Jean-Claude Juncker für ihre Verdienste ums Gemeinwohl ein Fässchen Gutedel zugeeignet. Auch Karl Kardinal Lehmann zählt schon zu den Geehrten – bekommen hat er, wie könnte es anders sein, einen Gutedel aus der Müllheimer Lage Pfaffenstück.

>>> Dreiländereck – Gutedel im Test

Text von Ulrich Sautter aus Falstaff Deutschland 05/14

Ulrich Sautter
Ulrich Sautter
Wein-Chefredakteur Deutschland