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Die Sechzigerjahre strahlen

Eine Retrospektive des VDP Württemberg bestätigt die Reifefähigkeit der oft unterschätzten Rieslinge aus dem Neckar- und Remstal.

Eine illustre Winzerrunde hatte sich am 28. März im Restaurant Lamm in Hebsack versammelt: Felix Graf Adelmann, Hansjörg Aldinger, Jochen Beurer, Christian Dautel, Markus Drautz, Felix Ellwanger, Joachim Fischer vom Weingut Herzog von Württemberg, Moritz Haidle, Philipp Graf Neipperg, Rainer Schnaitmann, Martin Schwegler vom Staatsweingut Weinsberg, und Hans-Peter Wöhrwag.

Der Grund für die Zusammenkunft: Die Winzer hatten aus ihren Familienreserven rund 60 gereifte Rieslinge ausgewählt, um sie sich gegenseitig sowie einer kleinen Runde von Journalisten zu präsentieren. In insgesamt 17 Flights arbeitete sich die Gruppe von den aktuellen Großen Gewächsen ausgehend rückwärts in die Vergangenheit, bis hin zu den Jahrgängen der 1960er Jahre.

Furiose Weine aus 1962, 1963, 1964, 1967

Deren Strahlkraft – und zwar im trockenen Geschmacksbild ebenso wie im edelsüßen – war der bleibende Eindruck der Verkostung: Obwohl diese Weine ein Alter zwischen 50 und 60 Jahren besitzen, wirkten sie fast durch die Bank vital, komplett in sich ruhend, wie Zeugnisse aus einer vergangenen Epoche des Weinbaus, als kleinteilige Strukturen und handwerkliche Bewirtschaftung der Weinberge noch alltäglich waren. Die anwesenden Winzer – in der Regel bereits Enkel der in den sechziger Jahren aktiven Generation – konnten nur wenig über die Machart dieser Weine berichten. Außer, dass sie Produkte einer Art von vor-industrieller oder zumindest mit geringstem Technikeinsatz auskommender Weinbereitung gewesen sein müssen. Es gab noch keine Reinzuchthefen und keinen Edelstahltank, nur eine rudimentäre Ausbildung und stattdessen viel Erfahrungswissen. »Die Ausbildung war komplett anders als heute«, berichtete etwa Moritz Haidle. »Als mein Vater auf der Berufsschule war, war er im ersten Jahr bei den Glasern, im zweiten bei den Schreinern, und im dritten bei den Winzern.« Betrachtet man die beiden furiosen 1964er, die Hans Haidle in dieser Zeit gelangen, scheint die unspezifische Ausbildung dem Fingerspitzengefühl für den Wein nicht geschadet zu haben.

Weit vorn in der Ehrentafel der sechziger Jahre landen auch die 1963er und 1964er »Brüssele«-Rieslinge aus der Kleinbottwarer Lage Süßmund aus den Kellern von Graf Adelmann, sowie der 1962er Maulbronner Eilfingerberg des Herzogs von Württemberg, und ebenso der 1969er Fellbacher Semlis Weißriesling Natur aus dem Weingut Aldinger. In einer eigenen Liga spielt die 1967er Kleinbottwarer Süßmund Riesling Beerenauslese des Weinguts Graf Adelmann, ein stilistisch formvollendeter Botrytiswein, für den sich angesichts seiner Finesse und Komplexität die Bezeichnung »Süßwein« verbietet.

Exquisites aus den 70er, 80er und 90er Jahren

Aus den siebziger Jahren überzeugten abermals ein Maulbronner Eilfingerberg »Klosterstück« des Herzogs von Württemberg, Jahrgang 1970, und dann aus der Zeit nach Verabschiedung des neuen Weinrechts (von 1971) ein 1973er Kleinbottwarer Süßmund, Graf Adelmann, sowie eine 1979er Fellbacher Goldberg Riesling Beerenauslese des Weinguts Aldinger.

In den achtziger Jahren deutete der 1986er »Hades« Riesling des Weinguts Drautz-Able den Beginn einer neuen Zeit an: Der im Barrique gelagerte Wein verleiht bereits einer Verschiebung des stilistischen Paradigmas hin zum Faktor »Kraft« Ausdruck – eine Verschiebung freilich, die in den kommenden Dekaden, unter dem Eindruck des beginnenden Klimawandels, noch stärker an Bedeutung gewinnen sollte. Ausgezeichnet auch die 1988 Schwaigerner Ruthe Spätlese trocken von Graf Neipperg, die 1985er Fellbacher Wetzstein Spätlese des Weinguts Aldinger sowie der glockenklare 1987er Weinsberger Schemelsberg Eiswein aus dem Staatsweingut Weinsberg.

Die neunziger Jahre brillierten in der Probe vor allem mit edelsüßen Weinen: 1998 gelang Rainer Schnaitmann eine subtile Lämmler Auslese, ebenso Hanspeter Wöhrwag mit einem Untertürkheimer Herzogenberg. Auch eine ganze Serie von Eisweinen konnte brillieren: MIt jodigem Duft zeigte der 1992er Untertürkheimer Herzogenberg aus dem Weingut Wöhrwag Terroir-Qualitäten, auch der 1998er aus dem Staatsweingut Weinsberg mischte pfeffrige Terroirnoten in sein Walnuss-artiges Bukett. Vom selben Jahr hatte Jürgen Ellwanger gar zwei Eisweine produziert: Die Menge war groß genug, um sogar eine »HADES«-Version im Barrrique zu erzeugen. 24 Jahre später hat die Variante aus dem Stahltank vielleicht um einen Hauch die Nase vorn, großen Eiswein-Genuss bieten beide Abfüllungen. Schließlich belegte eine ungemein stoffig-extraktgetragene, nicht extrem süße 1990er Trockenbeerenauslese aus dem Weingut Aldinger, was Württemberg in der höchsten Gewichtsklasse der Botrytisweine kann.

Bei den trockenen Weinen aus den neunziger Jahren sind zwei experimentelle Weine zu erwähnen: 1992 erzeugte Ernst Dautel einen Barrique-Riesling als »deutschen Tafelwein Neckar«, der farblich noch nachgerade jugendlich im Glas steht und auch noch nach 20 Jahren seine Muskeln spielen lässt. Jochen Beurers 1998er Riesling »Maischegärung« war seiner Zeit locker zehn Jahre voraus. Wie man es von manchen »modernen« Orange-Weinen kennt, verschwinden leicht oxidative Töne im Glas eher, als stärker zu werden, und der enorme Gerbstoffgehalt des Weins stellt die Frage, ob er am Ende vielleicht noch immer zu jung sei.

Deckers: »Kenner trinken Württemberger«

Bei der Nachbesprechung der Probe zogen die Winzer unisono das Fazit, dass der Württemberger Riesling das Flaschenlager lohne – und den Rieslingen von Rhein und Mosel nicht nachstehe. »Nur zu verkaufen sind Weißweine mit einer gewissen Reife wahnsinnig schwer«, so Hans-Peter Wöhrwag. »Bei Rotweinen ist es anders. Aber sobald die Kunden beim Weißweine eine ältere Jahreszahl auf dem Etikett sehen, lassen sie die Finger davon.« Es werde dann schnell angenommen, dass es sich um einen Ladenhüter handle.

Ein Vorurteil, das – so zeigte auch die Hebsacker Probe – dringend ausgeräumt werden muss. Nicht von ungefähr hatte der Weinhistoriker und FAZ-Redakteur Daniel Deckers seinem inhaltsreichen und unterhaltsamen Vortrag am Ende des Tages den Titel gegeben: »Kenner trinken Württemberger«. Der frühere Slogan der Württemberger Weinwerbung erhielt einen im Licht der in Hebsack verkosteten gereiften Rieslinge eine völlig neue Dimension: Wer genug Kennerschaft besitzt, um sich auf Hochkaräter abseits des Mainstream einzulassen, kauft solche Weine und legt sie mit Geduld und Umsicht ein paar Jahre zur Seite.

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1969 Fellbacher Semlis Weißriesling Natur 

Weingut Aldinger, Fellbach  

Im Duft steinig, würzig, deutlich Terroir-getrieben. Im Mund offenbart der Wein eine seidige Textur, leicht mehlig anmutende Phenole, er vereint Feinheit und Dichte, dazu kommt eine ungemein kultivierte, in keinem Moment im Gaumenverlauf grobe Säure, ein saftiger Gaumen wie aus einem Guss, und eine tolle Länge. 93

1964 Stettener Pulvermächer Riesling Spätlese     

Karl Haidle, Kernen-Stetten  

Hell in der Farbe, gelb, kaum golden. Hefig im Duft, mineralwürzig, etwas brenzlig. Überraschend füllig im Ansatz, kraftvoll, wirklich eine Spätlese-Anmutung, dicht und extraktbeladen mit nahtlos integrierter Säure. Sehr intensive, durchdringende Mineralität, die die geschmeidigen Anteile bis ganz zuletzt im Abgang mit Struktur versieht. 95

1964 Stettener Pfeffer Riesling Natur          

Karl Haidle, Kernen-Stetten  

»Natur« = nicht chaptalisiert. Im Duft mineralwürzig, fast schieferartig, brenzlig, etwas Kräuter, Langpfeffer, Kümmel, Anis. Im Mund dicht, ganz linear gebaut, mittelgewichtig im Extrakt, animierend, lebendig, mit kultivierter Säure, ein für den täglichen Konsum gedachter Basisriesling, der es noch heute faustdick hinter den Ohren hat. 94

1963 Kleinbottwarer Süßmund Riesling, Brüsseler Spitze 

Graf Adelmann, Kleinbottwar           

Deutliche Keuper-Mineralik im Duft, ein minimer Anflug von Kork, aber verkost- und bewertbar. Geschmeidig im Auftakt, dann saftig in der Säure, mineralisch fundierte Struktur, eine spielende Spur Süße, leicht karamellige Abgangsaromen zeigen die Reife an, während die Gaumenstruktur sehr lebendig ist, und mit ihrer hintergründigen Süße und Geschmeidigkeit den Lagennamen rechtfertigt. 93+ (in Bestform vermutlich eher 95 als 94).

1962 Maulbronner Eilfingerberg Riesling Spätlese 

Herzog von Württemberg, Ludwigsburg     

Golden in der Farbe. Im Duft vereinen sich brotige Reifenoten mit würzigen Aromen, geradezu von Kreuzkümmel. Im Mund ist der Wein druckvoll, besitzt ein festes Säurerückgrat auf einem Fond aus geschmeidiger, extraktgetragener Cremigkeit. Der Abgang bleibt krafvoll und homogen, mit leicht röstigen Aromen. Wirkt fast etwas burgunderhaft in seiner fülligen Anlage.            93

1967 Kleinbottwarer Süßmund Riesling Beerenauslese     

Graf Adelmann, Kleinbottwar           

Leuchtend rötlich-golden. Eher hell in der Farbe. Im Duft: Darjeeling, Dörrbirne, eine ungemein feine Botrytis, »wilde« Beerenfrucht. Im Mund ist der Wein dicht stoffig, nicht extrem süß, hat eine ganz transparente, frische Art mit feiner, zurückhaltender Süße und perfekt balancierendem Säurenerv. Auf delikate Weise mineralisch getönt, endet der Abgang mit nachgerade Madeira-artiger Würze, und mit einer fast schon trockenen Anmutung. 98

Ulrich Sautter
Ulrich Sautter
Wein-Chefredakteur Deutschland
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