Bis heute hat Sternekoch Tim Raue eine »Obsession für Frittiertes«. 

Bis heute hat Sternekoch Tim Raue eine »Obsession für Frittiertes«. 
© TVNOW / Markus Hertrich

Die Droge Zucker: Tim Raue sieht Staat in der Verantwortung

In einem kürzlich erschienenen »Spiegel«-Interview rechnet Tim Raue mit Fertigprodukten ab und nimmt sowohl den Staat als auch die Gesellschaft in die Mangel.

Convenience-Produkte und Fast Food sind hierzulande im wahrsten Sinne des Wortes in aller Munde: Ob Tiefkühl-Pizza, saftige Burger, Döner oder die klassische Currywurst mit Pommes – die Deutschen lieben ihr schnelles Essen und scheinen gar nicht genug davon zu bekommen. So liegt der durchschnittliche Pro-Kopf-Verbrauch für Convenience-Produkte laut »Statista« aktuell bei rund 20 Kilogramm pro Jahr, Tendenz steigend. Umso absurder erscheint der anhaltende Trend, blickt man einmal genauer auf die Nährwertangaben und den oft massiven Einsatz von Zucker

Zucker als Droge

Der leichtsinnige Umgang mit Convenience-Produkten macht auch Sternekoch Tim Raue wütend, wie er in einem kürzlich erschienenen »Spiegel«-Interview erklärt. Speziell die Droge Zucker sei hierbei ein rotes Tuch, vor allem im Hinblick auf die sonstigen Regulierungen des Staates, der eigentlich für seine Überbürokratie bekannt sei: »Es gibt hier für jeden Scheiß eine Verordnung. Drogen sind verboten, der Alkohol- und Nikotinkonsum wird reguliert, genauso wie Medikamente. Nur Zucker nicht.« Dabei wisse jeder, dass nichts »so schnell und direkt ins Blut gelangt wie Zucker.« 

»Form der Selbstliebe«

Er selbst kennt die Sucht nach Convenience-Produkten nur zu gut. Als Kind habe er bereits ein ungesundes Verhältnis zu Fast Food aufgebaut und »höchstens alle sechs, sieben Wochen« frisch Gekochtes aufgetischt bekommen, wenn er bei den Großeltern zu Besuch war. Als Resultat habe der 49-Jährige eine Zeit lang unter »sattem Übergewicht« gelitten: »Ich habe es gnadenlos ignoriert, weil ich die Völlerei genoss. Das war meine Form der Selbstliebe«, erklärt Raue, der die schweren Depressionen in seinen Dreißigern ebenfalls auf sein Essverhalten zurückführt. Auch heute noch erwische er sich dabei »in stressigen Situationen zu Lebensmitteln zu greifen, mit denen er sich als Kind belohnte.« Die Konsequenz: Heute habe er »alles: Glutenunverträglichkeit, Laktoseintoleranz, Histaminose

Staat soll mehr eingreifen

Obwohl sich der Sternekoch der ungesunden Inhaltsstoffe bewusst war, schaffte er es nicht, allein etwas zu ändern, »weil ich nicht willensstark genug war.« Auf die Frage hin, ob der Staat hier stärker eingreifen solle, hat der »The Taste«-Juror eine eindeutige Antwort: Ein Staat, der für die Sicherheit seiner Bürger verantwortlich ist, »sollte es auch für deren Gesundheit sein.« »Wir könnten Milliarden, die wir ins Gesundheitssystem pumpen, drastisch reduzieren, wenn wir Lebensmittel verbieten würden, deren Zuckergehalt fünfmal so hoch ist wie die pro Tag maximal empfohlene Menge«, findet Raue. 

»Krank gefressen«

Dass der Absprung nicht einfach ist, hat Raue am eigenen Leib erfahren. Mit 15 Kilo Übergewicht, möchte er zwar nicht »den Oberlehrer mit erhobenem Zeigefinger spielen«, »sich gegenseitig in Watte zu packen« bringe aber auch nichts. »Alle sind so politisch korrekt geworden, man darf gar nicht mehr sagen: Das solltest du besser nicht essen.« Vielmehr hieße es, man solle alle Menschen sein lassen, wie sie sind. »Völliger Schwachsinn«, findet der Spitzenkoch, der jeden Einzelnen in der Verantwortung sieht: »Wir sind als Gesellschaft ja keine wohltätige Vereinigung, sondern füreinander verpflichtet. Und wenn du die Gesellschaft nur Geld kostest, weil du dich krank gefressen hast, dann hat die Gesellschaft das Recht, dich zu sanktionieren, finde ich.« 

»Obsession für Frittiertes«

Ab und an zu sündigen, sei für den Sternekoch aber nach wie vor ein Thema: Bis heute habe er »eine gewaltige Obsession für Frittiertes« und müsse sich beim Vorbeigehen an Fast-Food-Läden regelrecht zusammenreißen. Erst kürzlich habe er am Flughafen von Doha eine Gordon-Ramsay-Pizzeria entdeckt und vier Pizzen zum Probieren bestellt. »Ich habe mir eingeredet, dass ich die aus beruflichen Gründen unbedingt testen muss«, verrät der Sternekoch, der von jeder Pizza allerdings nur ein paar Stücke gekostet habe. Im Gegensatz zu Fast-Food-Versuchungen scheint Tim Raue sein Essverhalten in Bezug auf andere Lebensmittel fest im Griff zu haben: »Ich trinke keine zuckerhaltigen Getränke mehr, habe kein Problem mit Alkohol und verzichte auf Kaffee.«   

Auch in seiner Biografie »Ich weiß, was Hunger ist« greift Raue, der mit seinem zweifach besternten Berliner Restaurant »Tim Raue« aktuell Platz 26 der »World’s 50 Best« belegt, sein eigenes Essverhalten auf und gibt Einblicke in seine Kindheit und die Entwicklung zu einem der gefragtesten Köche Deutschlands.  


Pia Schorlemmer
Pia Schorlemmer
Autorin
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