Der traumhafte Realismus der Victoria Lergenmüller

Ihre Familie gehört zu den größten privaten Weingutsbesitzern Deutschlands. Kein Grund es sich bequem zu machen.

Zu den traumumschlungenen Erzählungen des japanischen Autors Haruki Murakami zählt der Text »Die Bäckereiüberfälle«. Was mit einem ebenso banalen wie existenziellen Hungergefühl zweier junger Männer beginnt, mündet in einem Strudel aus surrealen Bildern und fantastischen Erlebnissen. Da ist der Plot am Ende auch nicht mehr wesentlich. Was zählt, ist eine fantastische Welt, die vor dem Leser dieses schmalen Bändchens wie aus dem Nichts entsteht und ihn am Ende berauscht zurücklässt. Murakami ist ein begnadeter Erzähler.

Wäre es unpassend, wenn wir einen solchen Moment auch von einem Wein erwarten? Unbedingt! Denn wer etwas erwartet, hat schon verloren, weil er seine Fantasie in Schranken weist. Es braucht eine gute Portion Unvoreingenommenheit (vielleicht auch Einsamkeit), um diesen so einzigartigen Rausch angesichts eines Glases Wein zu erleben. Was ihn in Gang setzt, falls er sich denn einstellt, bleibt zunächst ebenso rätselhaft wie die Frage nach der Henne und dem Ei.

Die Winzerin und der Zecher
»Ich will meine Weine nicht erst im Keller machen oder retten müssen«, sagt Victoria Lergenmüller und erzählt damit eigentlich nichts Neues. Nun ist es aber so, dass besonders ihre Rieslinge aus der Schieferlage Burrweiler Schäwer die Fantasie ihrer Zecher anregen – so sehr, dass man getrost daran glauben mag, dass Victoria Lergenmüller diesen Produkten der Winzerkunst alle Zeit der Welt opfert. Dass sie, wie Murakami mit sprachlichen Mitteln, eine fantastische Er­­zählerin mit weinbaulichen Mitteln ist. Eine, deren Weine man mit größter Wonne und zunehmender Begeisterung trinkt. Womit wir einer Antwort auf unsere Henne-oder-Ei-Frage tatsächlich ein bisschen näherkommen und nach der nämlich weder Zecher noch Winzer Erster sein müssen: Sie müssen sich nur auf Augenhöhe treffen, um sich zu verstehen.

Damit sie das tun, braucht es von beiden Seiten etwas, vom Zecher und vom Winzer. Erfahrung, Unvoreingenommenheit und Appetit gehören ganz gewiss dazu. Vielleicht ist es genau diese seltene Kombination von Eigenschaften, die Lergenmüllers Rieslinge hervorbringt. Sie ist 25 Jahre alt, besitzt die Wein-Kompetenz eines »alten Hasen« und die Neugierde eines jungen Menschen. Was zunächst wenig verwunderlich erscheint, gehört ihre Familie doch zu den größten Privat-Weingutsbesitzern hierzulande – mit besten Lagen in der Pfalz und im Rheingau.

Ein Schmuckstück: die »Schatzkammer« des Weinguts Sankt Annaberg. / Foto beigestellt
Ein Schmuckstück: die »Schatzkammer« des Weinguts Sankt Annaberg. / Foto beigestellt

Geisenheim, Bordeaux, Südpfalz
Eigentlich ein sehr bequemes Bett, in dem es sich gut ausruhen ließe. Doch Lergenmüller macht es sich nicht bequem. Sie hat in Geisenheim studiert, macht gerade ihren Master in Wine Marketing und Managing (MBA) in Bordeaux, den sie wohl nächstes Jahr in der Tasche haben wird, und übernahm mit dem Jahrgang 2012 auch noch die Verantwortung für die Weine des Weinguts Sankt Annaberg.

Und wie sie das tat! Die rund 335 Meter hoch gelegene Schieferlage Burrweiler Schäwer gehört zu den höchstgelegenen Weinbergen der Pfalz. Hier gelingen ihr außerordentlich markante Rieslinge, die in ihrer Art nicht nur in der Pfalz einmalig sind. Jeder Jahrgang sehr eigen, jeder sehr gut, jeder vom Schiefer geprägt. »Er ist anders als die anderen«, sagt Lergenmüller, »jeder meiner Rieslinge hat zweifellos seinen eigenen Charakter, aber der Schäwer ist der Big Bro.« Was so entspannt dahergesagt klingt – und sich ebenso trinken lässt –, ist freilich das Ergebnis disziplinierter Arbeit im Weinberg und ebenso im Keller.

Da tut Lergenmüller es dem Schriftsteller Murakami sicherlich gleich: Talent ist eine Gabe, die ohne Disziplin ausdruckslos bleibt. Als die Lergenmüllers das Weingut Sankt Annaberg Ende der neunziger Jahre über­nahmen, waren die Weinberge in einem bemitleidenswerten Zustand, weil ihre Vorgänger biologische Bewirtschaftung mit Nichtstun verwechselt hatten. »Es hat uns knapp zehn Jahre gekostet, die Weinberge zu retten, vereinzelt Neupflanzungen vorzunehmen, Krankheiten und Schädlinge zu bekämpfen«, sagt Lergenmüller, »ohne den Einsatz der Mittel aus der integrierten Landwirtschaft hätten ­wir das einfach nicht geschafft.«

Die Terrassenlage am Annaberg. / Foto beigestellt
Die Terrassenlage am Annaberg. / Foto beigestellt

Umstellung auf biologische Bewirtschaftung
Mittlerweile ist die Umstellung auf biologische Bewirtschaftung wieder in vollem Gange. »Schließlich leben wir inmitten des Pfälzerwalds in einem Naturschutzgebiet«, begründet Lergenmüller ihren Schritt back to the roots. Knapp einen Hektar mit bis zu 30-jährigen Rieslingreben in der Kernlage des nach 1971 auf immerhin 24 Hektar angewachsenen Burrweiler Schäwers bewirtschaften die Lergenmüllers heute, was die Delikatesse ihrer Weine buchstäblich nappiert. Und die kommt fast wie von ungefähr, weil Lergenmüller bei ihrer Entstehung so wenig wie möglich interveniert. Einen Teil des Mostes lässt sie spontan in Tonneau-Fässern vergären – und ihr wird nicht bang, wenn der werdende Wein im Winter mal eine kleine Pause einlegt und erst im folgenden Frühjahr wieder sanft zu blubbern beginnt.

Mut zum Fehler
Victoria Lergenmüller setzt im Keller alles auf eine Karte, und die heißt: Zeit. Einen Hang zur Perfektion besitze sie schon, sagt sie. Lieber mache sie mal einen Fehler, dann könne sie sich wenigstens sicher sein, dass sie alles versucht habe. Für eine andere, womöglich unerwartete Gabelung auf ihrem Weg ist Lergenmüller also stets offen. In den »Bäckereiüberfällen« sagt der Held an einer Stelle: »Schließlich gibt es in der Welt falsche Entscheidungen, die richtige Ergebnisse, und auch richtige Entscheidungen, die falsche Ergebnisse zur Folge haben.« Wie Murakamis Geschichten tragen auch Lergenmüllers Rieslinge eine berauschende Dosis magischen Realismus in sich.

Victoria Lergenmüller auf der Falstaff Wein Trophy 2016:

Von Axel Biesler
Aus Falstaff Deutschland 2/2016