Die »Osteria Francescana« 
von Massimo Bottura (im Bild) wurde heuer zum besten 
Restaurant der Welt erklärt.

Die »Osteria Francescana« 
von Massimo Bottura (im Bild) wurde heuer zum besten 
Restaurant der Welt erklärt.
© Paolo Terzi

Der Listen-Hype

Jedes Jahr im Juni erscheint die »World’s 50 Best«-Liste mit einer Reihung der angeblich besten Restaurants der Welt. Was hat es mit dieser geheimnisvollen Liste auf sich?

Sie ist wieder da: die Liste. Und sie sorgt wie jedes Jahr für Aufregung – besonders unter Köchen und Gastronomen. Die Erregung ist so seltsam wie der Medienhype. Denn in Abwandlung eines alten Witzes könnte man sagen: Wer ernsthaft glaubt, dass die »World’s 50 Best Restaurants«-Liste die definitiv 50 besten Restaurants der Welt auflistet, der glaubt auch, dass ein Zitronenfalter Zitronen faltet.

Die Liste wird von Jahr zu Jahr populärer

Doch irgendetwas machen die Listenmacher richtig. Denn die Liste ist mittler­weile ausgesprochen einflussreich und sorgt immer wieder für neue Trends. »Wenn die Weinindustrie parkerisiert wurde, dann könnte man sagen, dass die Restaurantwelt verpellegrinot wurde«, schrieb vor Jahren das US-Magazin »New Yorker« in Anspielung auf den vormaligen und langjährigen Hauptsponsor der Liste, San Pellegrino. Und tatsächlich: Gute Platzierungen sorgen dafür, dass Restaurants für Jahre ausgebucht sind. 100.000 Menschen sollen versucht haben, im »Noma« in Kopenhagen einen Tisch zu reservieren, nachdem das Restaurant erstmals auf Platz eins gewählt wurde; der Vorjahres-Erste, 
»El Celler de Can Rocca« in Spanien, war danach für mehr als ein Jahr ausgebucht. Während klassische Formate wie der Michelin Guide mit schwindenden Absatzzahlen 
zu kämpfen haben, wird die Liste von Jahr zu Jahr populärer.

»Es geht da nicht ausschliesslich ums Essen, sondern auch um die Gesamterfahrung.«
Christoph Teuner, Falstaff-Herausgeber Deutschland

»Der große Unterschied zum Guide Michelin ist, dass die Liste neue Trends sehr schnell aufnimmt«, sagt Christoph Teuner, Falstaff-Herausgeber Deutschland und Vorsitzender der Jury für die »World’s 50 Best« in Deutschland. »Es geht da nicht ausschließlich ums Essen, sondern auch um die Gesamterfahrung. What’s the hottest place right now? Für mich sind die Liste und der Michelin keine Feinde, im Gegenteil: Sie ergänzen einander.« Auch Heinz Reitbauer vom »Steirereck«, dem laut aktueller Liste neuntbesten Restaurant der Welt, meint: »Es ist klar, dass ein neuer Besen erst mal besser kehrt. Die Liste ist viel neuer und in aller Munde, den Michelin gibt es bereits seit vielen Jahrzehnten.« 

Ein Gericht im «weltbesten» Restaurant 2016: der «Osteria Francescana».
© Paolo Terzi
Ein Gericht im «weltbesten» Restaurant 2016: der «Osteria Francescana».

Entstanden ist die Liste 2002, als ein paar Redakteure des britischen »Restaurant Magazine« in einem Pub darüber lamentierten, dass sämtliche Gastrowertungen für alte, reiche Franzosen gemacht seien. Sie beschlossen kurzerhand, ihre eigene Liste zu erstellen. Das ­Projekt war anfangs nicht besonders ernst gemeint: Zwar landete Ferran Adriàs »El Bulli« auf Platz eins, daneben fand sich aber auch reichlich Obskures. Die »Restaurant«-Redakteure beschlossen, zur Präsentation ihres Rankings eine Party zu schmeißen und luden Köche aus der ganzen Welt ein. Womit keiner gerechnet hatte: Die meisten kamen tatsächlich – und amüsierten sich prächtig. »Die Liste wurde wichtig, weil die Köche kamen, und die Köche kamen, weil die Liste wichtig war«, so der »New Yorker« über das Phänomen. In wenigen Jahren wurde aus dem Scherz der vielleicht wichtigste Referenzpunkt für eine neue Generation von Gourmets.

Die Preise wurden erstmals in New York anstatt in London verliehen

Staaten investieren über ihre Tourismusbüros beachtliche Summen, um Listen-Jurymitglieder einzufliegen und zu verköstigen, um so den Gourmet-Tourismus zu fördern. Ursprünglich ein britisches Projekt, gibt es mittlerweile neben der weltweiten Liste auch Bestenlisten für Asien und Lateinamerika, heuer fand die Preisverleihung erstmals in New York und nicht in London statt, kommendes Jahr wird die Party im australischen Melbourne steigen. Und auch Heinz Reitbauer, dessen »Steirereck« bereits vor der Top-Ten-Platzierung stets ausgebucht war, sagt: »Die Aufmerksamkeit, die das international bringt, ist schon toll.«
Gleichzeitig regt sich Widerstand, vor allem in Frankreich: »Es gibt überhaupt keinen Zweifel, dass die Liste Bullshit ist«, meint etwa Phi­lippe Faure, offizieller »Gastro-Diplomat« Frankreichs. Die listenkritische Website mit dem seltsamen Namen »Occupy 50 Best« fand so prominente Unterstützer wie die mit zahlreichen Sternen ausgezeichneten Köche Joel Robuchon und Georges Blanc. Und die französische Regierung initiierte ihr eigenes Ranking, »La Liste«, als Gegenprojekt. David Kinch, Chefkoch des »Manresa«, eines der besten Restaurants der USA und derzeit auf Platz 83 der Liste, meinte unlängst: »Herumreisen und für Journalisten oder die Listen-Jurymitglieder kochen, eigene PR-Firmen engagieren – das alles kann Spaß machen, aber letztlich ist es doch eine Ablenkung von dem, was wir sind und wofür wir eigentlich im ›Manresa‹ arbeiten.«

Massimo Battura (im Bild links) mit seinen Kollegen.
© Paolo Terzi
Massimo Battura (im Bild links) mit seinen Kollegen.

Als die erste Liste 2002 erschien, fragten die Initiatoren schlicht ihre Freunde und Bekannten und nominierten einige ihrer eigenen Lieblingsrestaurants. Heute ist das Voting deutlich professioneller – die Listenplätze werden ähnlich wie die Oscars vergeben. Eine Jury – die »Diners Club World’s 50 Best Restaurants Academy« – stimmt über die Restaurants ­
ab. Die Welt wird von den Listemachern in 27 Regionen eingeteilt, jede Region hat einen eigenen »Chair«, einen offiziellen Vorsitzenden. Dieser nominiert 35 anonyme Stimmberechtigte für die Academy – weltweit gibt es daher 972 Mitglieder.

Über die Nummer Eins lässt es sich jedes Jahr am besten streiten.

Die Gruppe besteht in etwa zu je einem Drittel aus Köchen, Journalisten und »weit gereisten Gourmets«, wie es offiziell heißt. Jedes Academy-Mitglied nominiert sieben Restaurants, in denen er oder sie in den vergangenen 18 Monaten gegessen hat. Höchstens vier der Restaurants dürfen aus der eigenen Region stammen. Seit dem vergangenen Jahr überprüfen die Wirtschaftsprüfer von Deloitte den Abstimmungsprozess. 

Wer nur ein bisschen Leidenschaft für Essen hat, der kann sich wunderbar über die Liste aufregen...

Der Streit über Sinnhaftig- oder Sinnlosigkeit der Liste, über mögliche Schummeleien, die Reihenfolge der Restaurants und darüber, wer fehlt und wer zu Unrecht dabei ist, ist dennoch ein fixes Ritual im Jahreskreislauf der Gourmet-Community geworden – ähnlich erwartet, herbeigesehnt oder gehasst wie Weihnachten mit der Großfamilie. Wer nur ein bisschen Leidenschaft für Essen hat, der kann sich wunderbar über die Liste aufregen – und gleichzeitig seine eigene Weltläufigkeit zelebrieren. 
Er kann sich auch fragen, ob es wirklich nur Zufall ist, dass australische Restaurants jetzt deutlich öfter auf der Liste auftauchen, ein Jahr nachdem das Tourismusbüro des Landes Hunderte Journalisten Bussinessclass eingeflogen und durch die Toprestaurants des Landes geführt hat? Und warum sind die klassischen großen Gourmettempel Frankreichs Jahr für Jahr so weit hinten gereiht?Am schönsten streiten lässt es sich immer wieder um die jährliche Nummer eins – vor allem in diesem Jahr. Mit Massimo Botturas »Osteria Francescana« in Modena hat ein Lokal gewonnen, das sehr vielen Kritikern als mehr Schein denn Sein gilt – was es wiederum zu einem perfekten Sieger macht. »L’Art pour l’art ist der beste Weg, viele italienische Top-Restaurants zu beschreiben, und die ›Osteria Francescana‹ ist dafür das perfekte Beispiel«, urteilte etwa das QLI-Reisemagazin. 

Wer viele Journalisten einlädt, hat bessere Chancen.

Das System mag viele Fehler haben: So bleibt es letztendlich unüberprüfbar, ob Jurymitglieder tatsächlich in den Restaurants gespeist haben, für die sie stimmen. Es werden oft komplett unterschiedliche Restaurantkonzepte verglichen. Köche, die neue Trends verfolgen, haben einen Vorteil gegenüber jenen, die sehr klassisch arbeiten. Und wer viele Journalisten einlädt, hat bessere Chancen.
Doch sind all diese Makel wirklich so schlimm? Wie problematisch es ist, eine ernsthafte, weltweite Restaurant-Bestenliste in die Welt zu setzen, müssen auch die Franzosen mit ihrem Gegenprojekt »La Liste« gerade erleben. Es reiht nämlich Restaurants nach einem ausgeklügelten Algorhythmus automatisch. So etwas zu lesen oder darin zu stöbern, macht so viel Spaß wie die Warteschlange auf einem französischen Postamt.
(aus dem Falstaff Magazin 05/2016)

Tobias Müller
Autor
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