Coverstory Tessin: Weine aus dem Paradies

TEIL 1: Porträt einer Weinbauregion, die außerhalb der Schweiz stark unterschätzt wird.

Jedes Mal, wenn man die Tessiner Winzer besucht und mit ihnen ihre Weine degustiert, wird einem von Neuem bewusst, wie großartig die Erfolgsgeschichte des südlichsten aller Schweizer Weinbaukantone ist. Innerhalb von 30 Jahren schuf sich das Tessin mit der Leitsorte Merlot eine starke, unverwechselbare Identität. Zwischen den bekannten Crus des Bordelais und den korpulenteren Verwandten der Neuen Welt entwickelte der Merlot del Ticino in einer solide gebauten Nische ein eigenständiges Profil, das sich markant vom betulichen Image der Allerweltsmerlots abhebt.

Die Weinbaurealität
Zum besseren Verständnis der Weinbau­realität ein kurzer Exkurs: 1080 Hektar Rebfläche gibt es im Tessin, 81 Prozent sind mit Merlot bepflanzt, teilweise in arbeitsintensiven Steillagen. Die Sorte wurde Anfang des 20. Jahrhunderts, nach dem Wüten der Reblaus, zu Versuchszwecken importiert und nach dem Zweiten Weltkrieg flächendeckend angebaut. Der Wein wird reinsortig gekeltert oder als Assemblage von Merlot, Cabernet Sauvignon und anderen roten Sorten in die Flasche gefüllt. Einen Aufschwung erlebten in den vergangenen Jahren die Weißen: Chardonnay oder Sauvignon Blanc bereichern die Palette mit bemerkenswerten Tropfen und bedrängen den weiß gekelterten Merlot.

Leitsorte Merlot
Der Weinbau wird von rund 3500 Winzern größtenteils als Hobby betrieben. Sie verkaufen die Trauben aus kleinsten Parzellen den Weinhändlern und der einzigen Genossenschaft in Mendrisio. Einzelne Weinhändler bewirtschaften daneben auch große Rebflächen in Eigenregie und konnten ihre Position in den vergangenen Jahrzehnten auf diese Weise festigen. Die rund 60 Selbstkelterer bilden eine kleine, aber einflussreiche Kraft.

Werner Stucky (r.) schuf den Bordeaux-orientierten Merlot-Stil. Sein Sohn Simon arbeitet mit ihm im Betrieb. © Hans-Peter Siffert

Die Anbaugebiete
Der Boden besteht überwiegend aus Kristallin mit Granit und Gneis und ist eher sauer. Im Sopraceneri ist die Erde leicht sandig, mit einem hohen Gehalt an organischen Substanzen. Im Sottoceneri kann sie auch ton­- und teilweise kalkhaltig sein. Die Merlots aus dem alpineren Sopraceneri präsentieren sich in der Regel straffer und säurebetonter als die aus dem unteren Sottoceneri, wo sie »fleischiger« und weicher geraten. Das Klima ist längst nicht so paradiesisch, wie es die Prospekte anpreisen. Zwar scheint die Sonne länger als im Norden, doch die Regenmenge ist mit 2000 Millimetern hoch. Die hohe Luftfeuchtigkeit stellt die Winzer vor Probleme, gefürchtet sind auch die sommerlichen Hagelgewitter. Insgesamt herrschen also ebenso sanfte wie ruppige Verhältnisse. Wer dies ausblendet, romantisiert die Bedingungen und betrügt den Tessiner Weinbau um seine charakteristische alpine Härte.

Die Tessiner haben gelernt, mit diesen anspruchsvollen Bedingungen umzugehen, der Merlot hat sich akklimatisiert. Niemand will mehr auf ihn verzichten. »Merlot ergibt gute Weine, mit der Rebe ist angenehm zu arbeiten. Die Trauben werden zum richtigen Zeitpunkt reif. Ich liebe ihn«, bringt es Werner Stucky, der Doyen der Winzerschaft, trocken auf den Punkt. Oder Fredy De Martin, der die Weine der Kellereien Gialdi und Brivio keltert: »Die Sorte ist pflegeleicht. Der durchlässige, sandige Boden schluckt den vielen Regen und ergibt einen ganz eigenständigen Merlot.« Paolo Visini von der kleinen, hervorragenden Cantina Kopp von der Crone Visini bringt einen anderen Aspekt ins Spiel: »Der Merlot spiegelt beispielhaft die Bodenunterschiede.« Diese seien gerade in seinen Parzellen im Mendrisiotto auf kleinstem Raum feststellbar.

BILDERSTRECKE: Die besten Weine aus dem Tessin!

Wie die Tessiner mit Kirschessigfliegen, Wildfraß, Klimaerwärmung und Co. umgehen und internationalen Anklang finden lesen Sie im aktuellen Falstaff Magazin Deutschland Nr. 05/2015 – Jetzt im Handel!


Text von Martin Kilchmann

1. Deldea, 2. Chiodi, 3. matasci, 4. Giorgio Rossi, 5. Stucky, 6. Tamborini, 7. Cantina Monti, 8. Zündel, 9. Hubner, 10. Tenuta San Giorgio, 11 Fattoria Moncucchetto, 12. Kopp von der Crone Visini, 13. Castello di orcote, 14. Gialdi, 15. Valsangiacomo, 16. Zanini, 17. Tenimento dell'Ör, 18. Enrico Trapletti. © Illustration: Artur Bodenstein

Martin Kilchmann
Martin Kilchmann
Wein-Chefredakteur Schweiz
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