Bordeaux En Primeur: Tag 1

 (Donnerstag)

Ulrich Sautter schildert in seinem Bordeaux-Tagebuch seine Eindrücke von den diesjährigen En Primeur Verkostungen. 


Die »Primeur-Woche« hat für mich dieses Jahr neun Tage – es gibt so viel zu verkosten, dass ich schon am 30. März in Bordeaux angekommen bin. Noch vor meiner Abreise aus Hamburg trifft die Meldung ein, dass Paul Pontallier, der langjährige Regisseur auf Château Margaux, am 28. März einem Krebsleiden erlegen ist. Er wurde nur 59 Jahre alt – ein Schock für Bordeaux und die Weinwelt.

Am 31. März beginnt mein Arbeitstag um 9 Uhr auf Château Latour – nicht die schlechteste Adresse, um die Erkundung der 2015er zu beginnen. Es sind sehr fein texturierte, fast untypische Weine, die ich beim sonst eher für seinen stoffigen Stil bekannten Premier Cru im Glas finde. Ist das jetzt schon der Jahrgangstyp? Bei den Nachbarn bei Pichon Comtesse genieße ich erst einmal den fulminanten Panoramablick auf die Reben und den Ästuar, bevor ich mit Erstaunen einen recht straffen Wein verkoste. Hat dieses Jahr Latour eine Comtesse gekeltert und Pichon Comtesse einen Latour? Beim Gehen blicke ich nochmal durch die riesigen Fenster: Selbst der Landregen, der sich mittlerweile über Pauillac ergießt, kann die Schönheit dieses Ausblicks nicht schmälern.

Blick von Pichon Comtesse aud Château Latour / © Ulrich SautterBlick von Pichon Comtesse aud Château Latour / © Ulrich Sautter

Bei Léoville-las-Cases steht ein neuer Wein auf dem Tisch: Neben dem alt bekannten »Clos du Marquis« steht jetzt auch eine »Petite Marquise« in der Reihe der Fassmuster: also ein Zweitwein dessen, was vor 20 Jahren selbst ein Zweitwein war. Die Weine des Guts probieren sich ungemein homogen, die Familienähnlichkeit ihrer Gaumenstruktur scheint mir größer als in anderen Jahren, und Kellermeister Bruno Rolland bestätigt das als ein grundsätzliches Merkmal des Jahrgangs: »Für den Grand Vin benützen wir Barriques von elf verschiedenen Tonneliers. Normalerweise schmeckt der Wein aus jedem Fass ganz anders. Aber dieses Jahr gleichen sie sich alle, die Unterschiede sind sehr gering.«

Auf Château Lynch Bages probiere ich neben den Roten den ersten Weißwein der Woche, und der macht Lust auf mehr: Er hat Opulenz, aber auch Frische. Von dort geht es weiter zu Grand Puy Lacoste, wo mich François-Xavier Borie gut gelaunt in Empfang nimmt. Ein Teil des Anwesens ist derzeit wegen Bauarbeiten gesperrt. Es wird nicht die einzige Baustelle bleiben an diesem Tag. Geht man nach der Bautätigkeit, müssen die Geschäfte nach wie vor glänzend laufen in Bordeaux. Alfred Tesseron auf Pontet Canet lädt mich nach der Verkostung voller Stolz zu einem kurzen Blick auf sein Bauprojekt ein: Er lässt hinter dem Château ein kleines Dorf für die verschiedenen Gewerke bauen, die er künftig auf dem Gelände ansiedeln will. Unter anderem soll ein Pferdestall für 18 Pferde entstehen, damit in ein paar Jahren die gesamte Fläche des Cinquième mit dem Pferd bearbeitet werden kann. »Das Gut wird dann aussehen wie vor hundert Jahren«. Ein spannendes Projekt: sehr retro, und trotzdem ganz vorn.

Alfred Tesseron mit seiner Tochter: Auf Pontet Canet wird eifrig gebaut. / © Ulrich Sautter
Alfred Tesseron mit seiner Tochter: Auf Pontet Canet wird eifrig gebaut. / © Ulrich Sautter

Jean Pierre Boyer von Château Bel Air Marquis d’Aligre ist einer der großen Winzer-Originale in Bordeaux / © Ulrich Sautter
Jean Pierre Boyer von Château Bel Air Marquis d’Aligre ist eines der großen Winzer-Originale in Bordeaux / © Ulrich Sautter

Der Nachmittag beginnt in Saint-Estèphe: bei Haut-Marbuzet, dann geht es weiter zu Montrose, wo ich neben dem 15er auch nochmal den fulminanten 14er verkosten kann. Man wird sich sicher noch sehr lange Jahre darüber streiten können, welcher der beiden Jahrgänge der bessere ist. Nach einem Abstecher weiter nach Norden zu Sociando Mallet führt mich der Weg wieder nach Süden zu den Châteaux Ducru Beaucaillou und Saint-Pierre. Auf Saint-Pierre konnte im Herbst ein komplett neuer Keller eingeweiht werden – mit zahlreichen kleineren Gärgebinden, die parzellenreine Kelterungen erlauben. Der Zugewinn an Komplexität und Präzision ist deutlich schmeckbar. Weiter geht es nach Listrac, wo Lilian Barton vor wenigen Jahren ein bislang wenig bekanntes Château namens »Mauvesin« erworben hat. Auf »Mauvesin Barton« probiere ich nicht nur diesen sehr feinen Listrac, sondern auch Langoa und Léoville Barton, bevor ich zum letzten Termin des Tages aufbreche: zu Jean Pierre Boyer in Margaux auf seinem Château Bel Air Marquis d’Aligre. Der inzwischen 81-jährige erzeugt einen Margaux völlig ohne Holzeinsatz. Dafür bleiben die Weine drei oder vier Jahre in Zementcuves. Außerdem ist Boyer eines der größten Winzer-Originale in Bordeaux. Und er redet gerne viel und lange, daher kann man ihn nur abends besuchen, sonst würde man seinen Zeitplan unweigerlich ruinieren.

Mit mir gemeinsam treffen zwei junge, hipstermäßig aussehende Sommeliers aus Italien ein, gemeinsam mit der Freundin eines der beiden, die Französisch spricht und Boyers Redefluss zu übersetzen versucht. Außerdem schießt sie ein Foto nach dem anderen: von den wurzelechten, über 100 Jahre alten Reben, von Monsieur Boyer selbst und von dem verfallenen Château, das einst dem Politiker Marquis d’Aligre gehörte. Als Boyer schließlich seinen 2015er aus dem Hähnchen am Tank fließen lässt, erweist sich der als so cremig und delikat, als so verführerisch, dass ich beschließe, mein Glas auszutrinken. Nachdem ich den ganzen Tag gespuckt habe, so finde ich, darf das wohl sein.

Ulrich Sautters ausführliche Jahrgangsanalysen finden Sie ab Ende April/Anfang Mai auf www.weinverstand.de.

Ulrich Sautter
Ulrich Sautter
Wein-Chefredakteur Deutschland
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