© Angélus

Angelus: Irritiertes Schweigen in St. Émilion

Der Rückzug des Weinguts aus der Klassifikation wird fast nur hinter vorgehaltener Hand kommentiert. Wir haben ein paar exklusive (Flüster-)Stimmen aus Frankreich.

Eine kurze Erinnerung: Nachdem 1955 in St. Émilion eine Klassifikation installiert wurde –  genau 100 Jahre nach derjenigen des Médoc – standen mehr als 50 Jahre lang zwei Weingüter alleine an der Spitze der Pyramide: Ausone und Cheval blanc. Bei der Neufassung der alle zehn Jahre zu erneuernden Liste im Jahr 2012 erschienen zwei weitere Châteaux im Rang eines Premier Grand Cru Classé A: Angelus und Pavie. Diese Entscheidung der von der INAO eingesetzten Kommission wurde viel kommentiert – und auch vor Gericht getragen, da Angelus-Eigner Hubert de Boüard selbst Mitglied eben jenes Gremiums war, das über die Höherstufung seines Weinguts zu befinden hatte. Ende Oktober vergangenen Jahres wurde de Boüard von einem Gericht wegen dieses Interessenkonflikts zu einer Geldstrafe von 40.000 Euro verurteilt, wogegen de Boüard keine Rechtsmittel einlegte.

Zu diesem Zeitpunkt hatten die beiden ursprünglichen Premiers Grands Crus Classés A, Cheval blanc und Angelus, bereits bekannt gegeben, dass sie sich nicht für die Neuklassifikation 2022 bewerben werden. Dieser Schritt erfolgte im Juni 2021 vor Ablauf der Bewerbungsfrist – beide Güter erklärten, dass der Kriterienkatalog für die Neuklassifikation in ihren Augen zu viel Wert auf nachrangige Eigenschaften lege, etwa auf weintouristische Angebote oder die Präsenz in sozialen Medien, und deutlich zu wenig die Naturgegebenheiten berücksichtige, also vor allem Terroir und Geologie. Die Punkte Terroir und Boden sind zweifellos die Achillesferse bei beiden Aufsteigern aus 2012: Während die Weinberge von Angelus überwiegend am Hangfuss in sandigem Lehm liegen – also in Böden, die eher als etwas einfach gelten –, hatte Pavie quasi zeitgleich zu seiner Promotion umfangreiche Bodenbewegungen vorgenommen, die teils auch das Relief des ursprünglichen Terroirs verändert haben.

Überraschender Rückzug

Jüngst, am 5. Januar, veröffentlichte dann Angelus eine Pressemitteilung, in welcher das Château den Rückzug aus der Klassifikation erklärte: »Once a source of progress, the Saint-Emilion classification has become a vehicle for antagonism and instability«, so eine der Aussagen in diesem Communiqué: Die Klassifikation sei früher einmal ein Motor des Fortschritts gewesen, sei jetzt aber zu einem Vehikel der Feindseligkeit und Instabilität geworden.

In St. Émilion scheint es für viel Kopfschütteln zu sorgen, dass dasjenige Weingut, das in den letzten Jahren am meisten von der Klassifikation profitiert hat, sich nun unter solcher Kritik von ihr abwendet. Das Kopfschütteln findet allerdings nicht öffentlich statt. Manche Stimmen kritisieren im persönlichen Gespräch die Verurteilung von de Boüard vor Gericht, halten seinen Rückzug aus der Klassifikation aber ebenfalls für falsch, oder gar, wie ein Kommentar lautete, »zynisch«. In diese Richtung geht auch die Äußerung eines anderen Château-Repräsentanten, der allerdings ebenfalls darum bat, nicht namentlich zitiert zu werden: Es sehe seiner Meinung nach so aus, als wolle sich Angelus »im Windschatten« von Ausone und Cheval blanc aus seiner Verantwortung dafür stehlen, dass das Klassifikationssystem auseinanderzubrechen drohe.

Auch andere Kontaktierte lehnten einen Kommentar ab, so alle drei derzeit noch als »A« klassifizierten Betriebe: »Es gibt keine Stellungnahme unsererseits«, teilte etwa Château Pavie mit. Cheval blanc ließ eine Anfrage von Falstaff unbeantwortet. Pauline Vauthier auf Château Ausone äußerte sich dahingehend, dass sie Entscheidungen von Berufskollegen grundsätzlich nicht kommentiere. Allerdings, so Vauthier weiter, gebe es einen Unterschied zwischen der Entscheidung von Angelus und ihrer eigenen: Während Ausone gar nicht erst für das Klassifikationsverfahren 2022 angetreten sei, habe Angelus seine Kandidatur während des laufenden Vorgangs zurückgezogen.

»Klassifikation für St. Émilion nützlich«

Der einzige Weingutsbesitzer, der zu einer öffentlichen Äußerung bereit war, ist François Mitjavile auf Château Tertre Rôteboeuf. Dazu muss man wissen, dass sich Mitjavile zu keinem Zeitpunkt selbst um eine Klassifikation bemüht hat, obwohl sein Cru zu den hochpreisigsten der Appellation gehört – eine Flasche wird für Preise zwischen 200 und 300 Euro gehandelt. Der Wein figuriert als einfacher »St. Émilion Grand Cru« wie 95 Prozent der Weine des Orts. »Obwohl ich nicht klassifiziert werden möchte, halte ich die derzeitige Situation für sehr unglücklich«, so Mitjavile zu Falstaff, »denn die Klassifizierung von Saint Emilion ist für unsere Appellation nützlich. Was jetzt notwendig ist, ist dass die Personen, die über die Klassifikation befinden, nun dazu übergehen, kohärent zu handeln, damit die Klassifikation in Zukunft wieder respektiert wird.«

Der Handel sagt: who cares?

Etwas kommentarfreudiger zeigen sich auch Bordeauxhändler, etwa Heiner Lobenberg, Lobenbergs Gute Weine aus Bremen: »So gern ich Hubert de Boüard mag, hat es mich dennoch verwundert, dass er diesen Schritt ging. Ich fand den Austritt von Cheval blanc und Ausone schon etwas schräg, Modell Majestätsbeleidigung wenn nun auch bald Figeac nachrückt (…) Schon schade, aber dann ist es bald wie in Pomerol, die besten Namen muss man einfach kennen. (…) Schade für alle Bordeauxanfänger, die Orientierung wird nicht einfacher.«

Das Modell der klassifikationsfreien Nachbar-AOC Pomerol greift auch Michael Grimm von der Bacchus-Vinothek in Rottweil auf, allerdings im positiven Sinne: »In Pomerol gibt es keine Klassifizierung und jeder Weinliebhaber kann einen Lafleur, Trotanoy oder La Fleur Petrus von einem Château Taillefer abgrenzen. Vielleicht muss man das gesamte Thema Klassifizierung überdenken.« Hinsichtlich der Austritte merkt Grimm an: »Aber wie auch bei Cheval blanc und bei Ausone gilt für Angelus: Who Cares? Ich denke, der Nachweis ist von Angelus erbracht, dass hier mit die größten Weine von St.-Emilion erzeugt werden. Who Cares?«

Lucas Frost von der Londoner Weinbörse Liv-Ex lehnt zwar einen Kommentar ab: »Liv-Ex möchte sich von jeglicher Politik zwischen den Akteuren in Bordeaux fernhalten. Wir sind der Markt und möchten neutral bleiben.« Frost verweist aber auf die Liv-Ex-Klassifikation von 2021. In dieser zweijährlich erstellten Rangliste, die aufgrund der Marktdaten auf Liv-Ex erstellt wird, vor allem der Preise unter zusätzlicher Berücksichtigung von Jahrgangstiefe und Handelshäufigkeit, war Angelus bereits auf die zweite Stufe zurückgefallen, nachdem das Gut 2019 einmalig zum »first tier« gehört hatte, also der höchsten Kategorie. Die beiden einzigen St. Émilions in der höchsten Kategorie sind in der aktuellen Version der Liv-Ex-Klassifikation: Ausone und Cheval blanc.


Ulrich Sautter
Ulrich Sautter
Wein-Chefredakteur Deutschland
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