© Oscar da Riz

Über die unverwechselbare Beschaffenheit und Persönlichkeit eines Hauses haben sich schon unzählige Architekten und Philosophen den Kopf zerbrochen. Wir haben ein paar außergewöhnliche Charaktertypen unter die Lupe genommen.

23.09.2021 - By Wojciech Czaja

Gute Architektur hat alle Eigenschaften eines guten Menschen«, sagt der französische Philosoph und Schriftsteller Alain de Botton. »Sie kann logisch, geordnet, ruhig, lieblich, anmutig, verspielt, aufmerksam und vertrauensvoll sein. Zugleich aber manifestieren sich auch all die neurotischen und psychotischen Charakterzüge von unguten Menschen in Form von schlechter Architektur.« In seinem Buch »Glück und Architektur. Von der Kunst, daheim zu Hause zu sein« untersucht er genau diese Bezüge und Querverbindungen zwischen dem Menschen und seiner gebauten, unmittelbar umgebenden Umwelt.

Das Organische

Ort: Methoni, Griechenland
Architekt: Lassa Architects, London
Fertigstellung: 2021
Größe: 200 m2

Wie ein weißer, vierarmiger Seestern liegt das KHI-Haus auf einem sanft abfallenden Olivenhain am südlichen Peloponnes. Die weichen, organischen Außenmauern weisen an der Oberfläche gegossene Betonwellen auf, deren Wellenlänge und Amplitude mit der zunehmenden Entfernung von der Hausmitte sukzessive abnimmt. Dadurch ergibt sich zu jeder Tageszeit ein poetisches, unvorhersehbares Schattenspiel. Auch in der Kücheninsel findet sich die Wellenstruktur wieder. Organisch ist das Haus auch in ganz anderer Hinsicht: Anstatt den Erdaushub abzutransportieren, haben ihn die Londoner Architekten rund um das Haus zu einem sanften Hügel aufgeschüttet. Dadurch konnte nicht nur der ökologische Fußabdruck, sondern auch das Erscheinungsbild reduziert werden.

lassa-architects.com

© Naaro

»Insoweit Gebäude zu uns sprechen, geschieht dies auch durch Zitate«, schreibt de Botton im dritten Kapitel. »Sie kommunizieren mit uns, indem sie Assoziationen auslösen. Ein architektonisches Werk oder einen Entwurf schön zu nennen heißt, darin eine Darstellung von Werten zu erkennen, die für unser Wohlergehen unabdingbar sind, eine Verkörperung individueller Ideale durch ein stoffliches Medium.« Fragt sich nur: Wie sehen sie aus, die glücklichen, freundlichen, bodenständigen, archaischen, organischen, futuristischen und unsichtbaren Häuser?

Das Futuristische

Ort: Moskau, Russland
Architekt: Niko Architect, Moskau
Fertigstellung: 2019
Größe: 300 m2

Ein paar Kilometer vor den Toren Moskaus ist dieses futuristische Anwesen mit geschwungenen Fassaden und gewölbten High-Tech-Gläsern zu finden. Ein-gebettet ist es in eine ebenfalls übermorgige Gartengestaltung, in der Landschaft, Dachflächen, Lichtrüssel, Wasserpool und Innenhof eine untrennbare formale Einheit bilden. »Die Komposition der Architektur entwickelt sich ganz frei aus einer metabolischen Philosophie heraus«, sagt Architekt Stanislav Nikolajev in großen Worten. »Grenzen zwischen innen und außen verschwimmen, aber auch die Schnittstelle von Haus, Möbel und Kunstwerk löst sich allmählich auf, je weiter man sich in das Haus hineinbewegt.« Nichts wie rein!

nikoarch.com

© Niko Architects

Die Kultur des Ortes verstehen

»Egal, wo ein Projekt stattfindet«, sagt der Mailänder Architekt Peter Pichler, »das Wichtigste ist immer, dass ich die örtlichen Gegebenheiten kenne. Ob im Nahen Osten, in Abu Dhabi, in Kitzbühel oder in Italien – wir müssen den Ort und seine Kultur verstehen.« Mit seinem Erstlingswerk, einem verspiegelten Haus inmitten einer Apfelplantage im Norden von Bozen, hat er den Ort nicht nur verstanden, sondern sogar mit dessen Schönheit gespielt und ihr Auftreten durch raffinierte Spiegelungen in der Fassade verdoppelt. Damit hat er das Haus unsichtbar gemacht.

Das Archaische

Ort: Menorca, Spanien
Architekt: Nomo Studio, Barcelona
Fertigstellung: 2019
Größe: 450 m2

Auf einem felsigen Hügel an der Nordküste von Menorca baute Nomo Studio ein archaisches Steinhaus, das traditionelle Materialien mit modernen Bausystemen kombiniert. Errichtet wurde das Einfamilienhaus aus dem gleichen Kalkstein, mit dem meist auch die Ackerflächen eingefriedet werden, um sie vor Wind und Wildtieren zu schützen. Dazwischen tauchen immer wieder verputzte Mauerflächen auf, wie sie bereits seit Jahrhunderten die Architektursprache der Insel prägen. Die natürlichen, erdigen Töne setzen sich auch in den Innenräumen fort – mit sandfarbenem Betonboden, weiß getünchten Wänden und Möbeln aus rustikalem Kiefernholz.

nomostudio.eu

© Nomo Studio

»Die Herangehensweise ist das Entscheidende«, so Pichler. »Es braucht eine detaillierte Recherche: Wie ist es vor Ort? Wie ist das Klima? Welches Gefühl soll im Gebäude entstehen? Und in welchem Stil wurden die umliegenden Gebäude gebaut? Natürlich spielen auch die Vorlieben der Bewohner eine wichtige Rolle.« Der erst 39-jährige Architekt scheint seine Fragen richtig zu beantworten, denn das verspiegelte Haus in Bozen hat ihm nicht nur mediale Begeisterung beschert, sondern auch eine Reihe an Folgeaufträgen in unterschiedlichen Klima- und Kulturräumen.

Das Unsichtbare

Ort: Bozen, Südtirol
Architekt: Peter Pichler, Mailand
Fertigstellung: 2015
Größe: 80 m2

Zu Beginn stand der Bauherrenwunsch, inmitten der eigenen Apfelplantage ein vermietbares Ferienhaus mit Blick in die Natur zu bauen. Geworden ist daraus eine verglaste Luxuskiste mit großflächig öffenbaren Schiebetüren zwischen Wohnbereich und Garten. Auf der Rückseite jedoch entschied sich Architekt Peter Pichler, das Haus in der Landschaft verschwinden zu lassen. Zugleich verdoppelt sich in den verspiegelten Glastafeln die linierte Struktur der
Apfelbaumreihen. »Ich will die Kultur des jeweiligen Orts aufgreifen und neu interpretieren«, sagt der ehemalige Zaha-Hadid-Schüler, der mit diesem außergewöhnlichen Erstlingswerk vor einigen Jahren einen Coup gelandet hat, der bis heute Aufsehen erregt und regelmäßig in Werbung und Fachmedien auftaucht.

peterpichler.eu

© Oscar da Riz

In Kitzbühel plant er gerade ein Baumhaus-Hotel, in Abu Dhabi baut er riesige Villen für die arabische Hautevolee und in Dawson Lake, West Virginia, arbeitet er an einer ganzen Siedlung aus frei im Wald herumstehenden, bewohnbaren Holztürmen. Mal ist das Haus ein rustikales, mal ein luxuriöses, mal ein surreales. Solche Charakterhäuser im Sinne von Peter Pichler und Alain de Botton finden sich überall auf der Welt – ob in Methoni, Menorca oder in der Nähe von Moskau.

Das Recycelte

Ort: Gentbrugge, Belgien
Architekt: BLAF Architects, Lokeren
Fertigstellung: 2018
Größe: 190 m2

Das GJG-Haus in einem verwunschenen Garten in Gentbrugge ist Resultat eines langjährigen Forschungsprojekts, das sich mit der baulichen Umsetzung der belgischen Energieeffizienz-Normen beschäftigt. Lieven Nijs, Barbara Oelbrandtund Bart van den Driessche untersuchten, wie alte, gebrauchte Ziegel in neuer Architektur wiederverwendet werden können. Die geschwungene Form der Außenwände erfüllt dabei gleich mehrere Funktionen: Sie weicht den Bäumen am Grundstück aus und sorgt im Innenraum trotz der harten, unverputzten Flächen für eine angenehme Akustik. Im Inneren der doppelschaligen Ziegelkonstruktion befindet sich – ebenfalls recycelt und wiederverwendet – ein simpler Rahmenbau aus Stahl und Holz, der zugleich die beiden eingezogenen Wohnebenen trägt.

blaf.be

© Stijn Bollaerdt

Erschienen in:

Falstaff LIVING Nr. 06/2021

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