© Christian Fuerthner

Was Wohnen betrifft, gilt Wien als Vorzeigestadt. Innovation hat hier Tradition und aktuell werden zahllose mutige und clevere Ideen in die Realität umgesetzt.

08.10.2021 - By Heimo Rollett

Während in Berlin über Enteignungen diskutiert wird, freut man sich in Wien über ein recht friedliches Zusammenleben. Die ­Preise steigen zwar auch, sind im internationalen Vergleich aber noch moderat, und es gibt leistbaren Wohnraum. Warum? Weil die österreichische Bundeshauptstadt einiges anders gemacht hat, ob gewollt oder nicht: »Eine Innovation, die Wien bis heute prägt, hatte eigentlich eine andere Intention«, weiß Wohnbau­forscher Wolfgang Amann, geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Immobilien, Bauen und Wohnen. »In den 1920er-Jahren wurden in allen Teilen Wiens – auch in den bürgerlichen – Gemeindebauten errichtet, damals aus militärstrategischen Gründen. Später hat sich gezeigt, dass die flächendeckende ­Einstreuung von Sozialwohnbauten sehr zu einer integrativen Stadt beiträgt.«

Dachpool im sozialen Wohnbau

Andere Innovationen wurden bewusst herbeigeführt: Harry Glück etwa plante bereits vor 60 Jahren autofreie Siedlungen, verdichtete den Flachbau und ließ Türme mit Wohnungen für 10.000 Menschen in die Höhe ragen. Mit den Swimmingpools am Dach des Wohnparks ­Alterlaa machte er den »Luxus im sozialen Wohnbau« wahr.»Wien betreibt wie kaum eine andere Großstadt Bodenbevorratung«, erklärt Wolfgang Amann ein weiteres Unikum. »Der Wohnfonds Wien kauft Grundstücke mit Eignung für eine städtebauliche Entwicklung, sorgt für eine ­geeignete Widmung, schließt sie auf und ­verwertet sie, meist über das Instrument der Bauträgerwettbewerbe.« Aufgrund seiner Marktmacht und der Nähe zur Stadt gelinge es so, Grundstückspreise für den leistbaren Wohnbau weit unter dem Marktniveau anzubieten. »Der Wohnfonds verfügt derzeit über nicht weniger als drei Millionen Quadratmeter Grundstücksreserven«, weiß Amann.

In der Seestadt Aspern reihen sich Wohninnovationen dicht an dicht. Aber nicht nur hier: Die »Internationale Bauausstellung Wien 2022« hat die vielen cleveren Ideen gesammelt und
übersichtlich aufbereitet. iba-wien.at

© Christian Fuerthner

Bunter Mix dank mutiger Ideen

Innovation hat im Wiener Wohnbau also ­Tradition. Ein aktueller Hotspot diesbezüglich ist die Seestadt Aspern. Das eben entstehende Quartier »Am Seebogen« strotzt nur so vor ­unkonventionellen Bauten. Da reihen sich in einem Haus Wohngemeinschaften für Lehr­linge an Ateliers, Co-Working-Spaces und einen Sportverein, da entstehen Gemeindebauten der neuen Generation mit verschiebbaren Möbeln, die als Trennelemente eingesetzt werden können, da gibt es Sammelgaragen, deren Erdgeschoßflächen als multifunktionaler ­Kulturbereich dienen, am »Campus der Religionen« stehen acht selbstständige Sakralbauten nebeneinander und im Projekt »kolok-as« leben drei Zielgruppen in einem Haus, um sich gegen­seitig zu helfen: ältere Menschen, Studierende und Alleinerziehende. Im »Gründer-Innen-Hof« wird es Jungunternehmern leicht gemacht, die Arbeits- und die Privatwelt zu verschränken: Es gibt Arbeitszimmer in den Wohnungen (teilweise mit Extrazugang), Mikrobüros und Maisonetten mit Arbeits­ateliers – bei günstigen Mieten und geringen Finanzierungsbeiträgen.

Neuartig sind im Quartier »Am ­Seebogen« nicht nur die Projekte, auch die Art und Weise, wie sie gemacht werden: In einer eigens geschaffenen Quartierswerkstatt. Hier tauschen sich alle Stake­holder aus, Ideen werden geschmiedet, die Stadt wird gemeinsam geschaffen. aspern-seestadt.at

© Schreinerkastler

Investition in Mixed Use

Innovative Baustoffe, nachhaltige Strategien oder neue Arten des Bauens haben wir dabei noch nicht einmal erwähnt. Normalerweise ist jeder Investor ganz auf sein Projekt konzen­triert, was jenseits der Grenze des Grundstücks passiert, ist ihm eher egal. Nicht so beim ­Baufeld »Wohnen und Gewerbehof«, für das Anfang September der Grundstein gelegt ­wurde – von fünf Bauträgern und Investoren zugleich. Hier wird gemeinsam bauplatzübergreifend entwickelt. Ein deutlicher Mehraufwand für die Beteiligten, aber sinnvoll, wenn am Ende ein in sich verschränkter Nutzungsmix aus 270 Wohnungen, üppig begrünten Freiflächen, Geschäften und – Trommelwirbel! – einem Gewerbe­hof entsteht. Hinter dem bieder klingenden Wort versteckt sich ein smartes Gebäude, das die gesamten Arbeitsabläufe von Handwerksbetrieben, produzierendem Gewerbe und produktionsnahen Dienstleistungsbetrieben an einem Ort bündelt – mitten in dem Quartier.

Beim Sonnwendviertel hat die Stadt zehn Bauplätze nicht an geförderte Wohnbauträger
vergeben, sondern mit konkreten Auflagen an frei finanzierte. So entstand eine bunte
Mischung mit Stadtloggia, Galerien und Ateliers, Bewegungsraum, Montessorischule, Mediencafé, Kino, Bibliothek, Seminarräumen etc. diewogen.at

© Janusch

Modulare Extrazimmer

An vielen anderen Plätzen Wiens wird ebenso mutig und nachhaltig gebaut. In Ottakring wird ein ganzer Block – also mehrere einzelne Häuser – zusammengeführt, indem Flächen in den Innenhöfen und auch Räume gemeinsam genutzt werden. Ein Unikum! So können Dachflächen unterschiedlicher Liegenschaften zu größeren Einheiten zusammengelegt, Gemeinschaftsräume und Aufzüge gemeinsam genutzt und Haustechniksysteme gebäudeübergreifend eingesetzt werden. Nicht fehlen in dieser Auflistung darf das »Stadtregal« im dritten Wiener Gemeindebezirk, jüngstes soziales und ökologisches Vorzeigeprojekt im geförderten Wohnbau. Ein vorgesetztes »Regal« ist eine riesige Raumpufferzone, die temporär genutzt werden kann. Der pubertierende Sohn braucht ein eigenes Zimmer? Für den Gemüseanbau fehlt ein eigener Balkon? Das Schlagzeug soll um Himmels willen raus aus der Wohnung? Alles möglich, ganz modular einfach Räume im Regal dazumieten. Zwei Baukörper werden beim »Stadtregal« in Holzhybridbauweise errichtet, Klimaresilienz steht im Vordergrund, am Dach gibt es ein Wasserspieldeck und Hühner. Ihre Eier werden dann im »Kuchenamt«, einer von Wien Work betriebenen Lehrkonditorei, die sich Nachhaltigkeit, Diversität und Inklusion verpflichtet, verarbeitet. So geht Wohnbau!

Mal braucht man mehr, mal weniger Platz. Das »Stadtregal« zwischen dem eigentlichen
Baukörper und der Straße dient als architektonische Pufferzone. Hier können die Bewohner
modular Räume für ihre pubertierenden Kinder oder sogar fürs Urban Gardening zumieten. gernergernerplus.com 

© Expressiv

Erschienen in:

Falstaff LIVING Nr. 07/2021

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