Weltklasse in Wien
Was Wohnen betrifft, gilt Wien als Vorzeigestadt. Innovation hat hier Tradition und aktuell werden zahllose mutige und clevere Ideen in die Realität umgesetzt.
08.10.2021 - By Heimo Rollett
Während in Berlin über Enteignungen diskutiert wird, freut man sich in Wien über ein recht friedliches Zusammenleben. Die Preise steigen zwar auch, sind im internationalen Vergleich aber noch moderat, und es gibt leistbaren Wohnraum. Warum? Weil die österreichische Bundeshauptstadt einiges anders gemacht hat, ob gewollt oder nicht: »Eine Innovation, die Wien bis heute prägt, hatte eigentlich eine andere Intention«, weiß Wohnbauforscher Wolfgang Amann, geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Immobilien, Bauen und Wohnen. »In den 1920er-Jahren wurden in allen Teilen Wiens – auch in den bürgerlichen – Gemeindebauten errichtet, damals aus militärstrategischen Gründen. Später hat sich gezeigt, dass die flächendeckende Einstreuung von Sozialwohnbauten sehr zu einer integrativen Stadt beiträgt.«
Dachpool im sozialen Wohnbau
Andere Innovationen wurden bewusst herbeigeführt: Harry Glück etwa plante bereits vor 60 Jahren autofreie Siedlungen, verdichtete den Flachbau und ließ Türme mit Wohnungen für 10.000 Menschen in die Höhe ragen. Mit den Swimmingpools am Dach des Wohnparks Alterlaa machte er den »Luxus im sozialen Wohnbau« wahr.»Wien betreibt wie kaum eine andere Großstadt Bodenbevorratung«, erklärt Wolfgang Amann ein weiteres Unikum. »Der Wohnfonds Wien kauft Grundstücke mit Eignung für eine städtebauliche Entwicklung, sorgt für eine geeignete Widmung, schließt sie auf und verwertet sie, meist über das Instrument der Bauträgerwettbewerbe.« Aufgrund seiner Marktmacht und der Nähe zur Stadt gelinge es so, Grundstückspreise für den leistbaren Wohnbau weit unter dem Marktniveau anzubieten. »Der Wohnfonds verfügt derzeit über nicht weniger als drei Millionen Quadratmeter Grundstücksreserven«, weiß Amann.
Bunter Mix dank mutiger Ideen
Innovation hat im Wiener Wohnbau also Tradition. Ein aktueller Hotspot diesbezüglich ist die Seestadt Aspern. Das eben entstehende Quartier »Am Seebogen« strotzt nur so vor unkonventionellen Bauten. Da reihen sich in einem Haus Wohngemeinschaften für Lehrlinge an Ateliers, Co-Working-Spaces und einen Sportverein, da entstehen Gemeindebauten der neuen Generation mit verschiebbaren Möbeln, die als Trennelemente eingesetzt werden können, da gibt es Sammelgaragen, deren Erdgeschoßflächen als multifunktionaler Kulturbereich dienen, am »Campus der Religionen« stehen acht selbstständige Sakralbauten nebeneinander und im Projekt »kolok-as« leben drei Zielgruppen in einem Haus, um sich gegenseitig zu helfen: ältere Menschen, Studierende und Alleinerziehende. Im »Gründer-Innen-Hof« wird es Jungunternehmern leicht gemacht, die Arbeits- und die Privatwelt zu verschränken: Es gibt Arbeitszimmer in den Wohnungen (teilweise mit Extrazugang), Mikrobüros und Maisonetten mit Arbeitsateliers – bei günstigen Mieten und geringen Finanzierungsbeiträgen.
Investition in Mixed Use
Innovative Baustoffe, nachhaltige Strategien oder neue Arten des Bauens haben wir dabei noch nicht einmal erwähnt. Normalerweise ist jeder Investor ganz auf sein Projekt konzentriert, was jenseits der Grenze des Grundstücks passiert, ist ihm eher egal. Nicht so beim Baufeld »Wohnen und Gewerbehof«, für das Anfang September der Grundstein gelegt wurde – von fünf Bauträgern und Investoren zugleich. Hier wird gemeinsam bauplatzübergreifend entwickelt. Ein deutlicher Mehraufwand für die Beteiligten, aber sinnvoll, wenn am Ende ein in sich verschränkter Nutzungsmix aus 270 Wohnungen, üppig begrünten Freiflächen, Geschäften und – Trommelwirbel! – einem Gewerbehof entsteht. Hinter dem bieder klingenden Wort versteckt sich ein smartes Gebäude, das die gesamten Arbeitsabläufe von Handwerksbetrieben, produzierendem Gewerbe und produktionsnahen Dienstleistungsbetrieben an einem Ort bündelt – mitten in dem Quartier.
Modulare Extrazimmer
An vielen anderen Plätzen Wiens wird ebenso mutig und nachhaltig gebaut. In Ottakring wird ein ganzer Block – also mehrere einzelne Häuser – zusammengeführt, indem Flächen in den Innenhöfen und auch Räume gemeinsam genutzt werden. Ein Unikum! So können Dachflächen unterschiedlicher Liegenschaften zu größeren Einheiten zusammengelegt, Gemeinschaftsräume und Aufzüge gemeinsam genutzt und Haustechniksysteme gebäudeübergreifend eingesetzt werden. Nicht fehlen in dieser Auflistung darf das »Stadtregal« im dritten Wiener Gemeindebezirk, jüngstes soziales und ökologisches Vorzeigeprojekt im geförderten Wohnbau. Ein vorgesetztes »Regal« ist eine riesige Raumpufferzone, die temporär genutzt werden kann. Der pubertierende Sohn braucht ein eigenes Zimmer? Für den Gemüseanbau fehlt ein eigener Balkon? Das Schlagzeug soll um Himmels willen raus aus der Wohnung? Alles möglich, ganz modular einfach Räume im Regal dazumieten. Zwei Baukörper werden beim »Stadtregal« in Holzhybridbauweise errichtet, Klimaresilienz steht im Vordergrund, am Dach gibt es ein Wasserspieldeck und Hühner. Ihre Eier werden dann im »Kuchenamt«, einer von Wien Work betriebenen Lehrkonditorei, die sich Nachhaltigkeit, Diversität und Inklusion verpflichtet, verarbeitet. So geht Wohnbau!