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Sehr brav! Form folgt nicht! Witzige und skurrile Design-Highlights

Was passiert, wenn sich Kreative nicht ans Design-Credo »Form follows function« halten? Geht dann die Welt unter? Mitnichten. Vielmehr entstehen kreative Dialoge und hitzige Diskurse, wenn Erwartbares mit Witz und Subversion unterlaufen wird. Und fad wird einem auch nicht dabei. LIVING hat Beispiele, die das »Weirde«, Verrückte und Unkonventionelle feiern und Design so weiterbringen.

25.04.2022 - By Manfred Gram

Der Mensch neigt dazu, Regeln und Merksätze zu formulieren, um so seinen Alltag einfacher in den Griff zu bekommen. »Form follows function« ist so ein Merksatz. Geht man diesen geflügelten Worten auf den Grund, kommen oft überraschende Resultate heraus. Zum Beispiel stößt man dann auf den amerikanischen Bildhauer Horatio Greenough, ein Harvard-Absolvent übrigens, der mit seinen Thesen zu Kunst, Architektur und Design maßgeblichen Anteil daran hatte, den Funktionalismus auf den Weg zu bringen. Er überlegte sich schon vor genau 170 Jahren in Essays, wie Form und Funktion zusammenhängen, und bereitete so den Boden auf für einen der am öftesten ausgesprochenen und diskutierten Sätze, wenn es um Gestaltung geht.

Mit »Form follows function« ist man üblicherweise auf der sicheren Seite, wenn es darum geht, ganzheitliche, lösungsorientierte Prozesse im Design voranzutreiben. Aber ja, ein bisschen schwammig ist die Sache natürlich auch, denn die Welt wäre wohl ein ziemlich langweiliger und eiskalter Ort, wenn einzig und allein das richtig und super wäre, was durch seine Funktion überzeugt. Kein Wunder also, dass kreative Geister allergisch reagieren und rebellisch werden, sobald Formel- und Regelhaftes auftaucht. Sie pfeifen auf die Form und wollen einfach nicht folgen.

Außer Form

Und was bringt der Konventionsbruch? Sagen wir mal so: Apple ist – von der durchgefeilten Marketingstrategie einmal abgesehen – wohl auch so erfolgreich geworden, da Steve Jobs stets davon predigte, Design und Funktion gleichwertig zu behandeln. Er war nicht der Erste, der auf diese Idee gekommen ist. In der Designgeschichte geht’s mitunter ziemlich wild zu, was das betrifft. Da kann man schon einmal Angst bekommen.

Als ich ein Kind war, hatten wir zu Hause ein ›Bocca‹-Sofa am Ende des Treppenflurs stehen. Ich hatte Angst, es würde mich bei lebendigem Leibe verspeisen.

Charley Vezza, Chef von Gufram

»Als ich ein Kind war, hatten wir zu Hause ein ›Bocca‹-Sofa am Ende des Treppenflurs stehen. Ich hatte Angst, es würde mich bei lebendigem Leibe verspeisen«, erzählt etwa Charley Vezza, Chef des piemontesischen Interior-Labels Gufram. Seit über fünf Jahrzehnten produziert das Unternehmen das lippenförmige Sofa »Bocca«, das vom weltbekannten Turiner Architekturbüro Studio 65 bereits im Jahr 1970 ersonnen wurde. Ob die Form alles richtig macht, wenn sie Kindern Angst einjagt, sei jetzt einmal dahingestellt. Die Sache mit der Funktion ist den Kreativen im Studio 65 auf jeden Fall ein -bisschen mehr wurscht, wenn es an die Realisierung von Design- und Bauprojekten geht. Das »Bocca«-Sofa zeugt davon. Inspiriert von Salvador Dalís »Mae West Lips Sofa« aus den 1930er-Jahren, hat man einen Produkt-klassiker geschaffen, der vor allem deswegen bleibenden Eindruck hinterlässt, weil er sich zwischen den Polen Skulptur und Alltagsgegenstand bewegt.

Eindruck hinterließ übrigens auch die Arbeit »Chair« des Briten Allen Jones, die wie das Sofa-Lippenbekenntnis von Studio 65 ein Kind der Pop-Art ist. Bereits 1969 sorgte die ungewöhnliche Sitzmöglichkeit für ziemlich viel Wirbel, weil da ein bisschen mehr aus der Form geraten ist. Der Stuhl, neben Hutständer und Tisch Teil einer Möbelserie, zeigt nämlich eine Frau in SM-Fetischkleidung, die zum (Sitz-)Objekt degradiert wird. Das gab reichlich Diskussionsstoff und Diskursfutter für die Emanzipationsbewegung und Feministinnen.

Heute ist der »Chair« ein beliebtes Ausstellungsstück, das regelmäßig in Arbeiten von Künstler:innen zitiert und parodiert wird, aber auch 1986 in der Tate Modern Ziel eines Säureattentats war. Restauratorin Lyndsey Morgan, die Teil des Teams war, das den »Chair« nach der Säureattacke wieder reparierte, plädiert auch für eine Diskursbereinigung, wenn’s um den heißen Stuhl geht, weil: »Beim ›Chair‹ handelt es sich meiner Meinung nach um ein Kunstwerk. Er nimmt einen wichtigen Platz in der Geschichte der Skulpturen ein, geht neue Wege und ist Beweis dafür, dass Möbelskulpturen Teil unserer Populärkultur geworden sind.«

Leben in Schieflagen

Man sieht – sobald Kreative kreativ werden, Konventionen hinterfragen und neue Gestaltungswege suchen, werden oft tiefer liegende Wahrnehmungsebenen angesprochen. Das wirkt direkt auf Kultur, Gesellschaft und Ästhetikempfinden und lässt die Grenzen zur Kunst verschwimmen.

Nicht selten kommen dabei großartige Unmöglichkeiten heraus. Designobjekte, die mit Mut starres Denken und eingespielte Muster hinterfragen und aufbrechen. Die Kunsthistorikern Agata Toromanoff nennt dies schlicht »Impossible Design« und hat in einem sehr lesefreundlich gestalteten Bildband Best-Practice-Beispiele aus mehreren Jahrzehnten Designgeschichte zusammengetragen.

Man merkt schnell, was unkonventionelles Design alles schafft. Es verrückt Sichtweisen, nötigt einem ab, Dinge zu hinterfragen, und öffnet so Räume für Dialoge und Diskurse. Witz und Ironie kommen dabei nicht zu kurz, wenn LED-Lampen, die eigentlich Lautsprecher sind und wie Wolken gestaltet sind, handgeknüpfte Perserteppiche, die mit fliegender Leichtigkeit zu einem Freischwinger geformt werden, oder schiefe Schubladenkäs-ten die Optik herausfordern. Es kann sogar gesellschaftspolitisch werden. Etwa wenn einer der wichtigsten italienischen Gegenwartsdesigner, Francesco Binfaré, ein Sofa gestaltet, das so eindeutig wie möglich eine Packeisscholle imitiert, auf der ein Eisbär liegt. Die Verspieltheit revolutioniert die Wohnlandschaft und ist ein Statement zur Klimakatastro­phe. Und selbstverständlich: Das Eisbärfell ist Kunstpelz, ökofreundlich und nachhaltig. Also bei allen Eskapaden kommt die Materialfrage nicht zu kurz. Schräg? Natürlich, aber trotz aller Ausuferungen auch immer alltagstauglich. Manchmal mehr, manchmal weniger …

Subversion

Was aber, wenn es um Alltagstauglichkeit geht? Mit dieser Frage beschäftigt sich die griechische Architektin und Designerin
Katerina Kamprani in ihrem Langzeitprojekt »The Uncomfortable Collection«. Sie stellt, fast schon in dadaistischer Tradition, unbrauchbare Alltagsgegenstände her. Besteck, zu dick und zu unhandlich, um damit zu essen. Weingläser, aus denen man nicht trinken kann. Gießkannen, die sich selber wässern. Wasserundichte Gummistiefel oder Töpfe mit zwei Henkeln an einer Seite. Warum? »Das Projekt ist für mich ein Akt der Rebellion. Ich mache einfach das Gegenteil davon, was ich in der Designschule gelernt habe«, erklärt sie in einem Interviewvideo auf ihrer Website. Das Resultat sind subversive Produkte, die nicht nur ihre Schöpferin zum Lachen bringen, sondern auch eine didaktische Designbotschaft transportieren, die man gerne vergisst: »Regeln sind wichtig, aber genauso wichtig
ist es, sie brechen zu dürfen.« Man kann es aber auch anders formulieren. Zum Beispiel so: Liebes »Form follows function«, Design
ist nicht nur, wie eine Sache aussieht, sondern die ganze Sache plus wie sie funktioniert.
Oder eben nicht funktioniert, wenn das so gewollt ist.

Wenn mich ein Entwurf zum Lachen bringt oder überrascht, dann wird er umgesetzt.

Katerina Kamprani, Designerin mit Hang zum Unkonventionellen

Impossible Design von Agata Toromanoff

Liebevoll aufschlussreich hat die Kunsthistorikern in diesem Buch außergewöhnliche Designs der letzten Jahre und Jahrzehnte versammelt. Hier wird das Unmögliche gefeiert und möglich gemacht. Inspiration pur!

Verlag: Dumont   Preis: 25,70 Euro

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