© Foto: Michael Young/Courtesy of Central Park Tower

Schräger Gebäude-Wahn: Wahrzeichen oder Wahnwitz?

Sie sind echte Hingucker: hoch, verrückt und provokant. Aber braucht die Welt nach einer Pandemie weitere angeberische Protzbauten? Zunehmend müssen sich Architekten die Frage gefallen lassen, ob ihre Projekte tatsächlich umsetzbar sind.

13.04.2021 - By Karin Cerny

Die Homepages von Architekten sind ein Wunderland. Man sieht aber­witzige Bauten, die von glücklichen Menschen bewohnt werden. Wie in einem Science-Fiction-Film – die Gesetze der Schwerkraft wurden raffiniert ausgehebelt: Architektur als Garant für ein schönes, sorgenfreies Leben.

FLIEGENDES KLASSENZIMMER

Dass viele dieser ausgefallenen Projekte nur als Modell innovativ wirken, beweist eine lebhafte Debatte um den sogenannten Tulip Tower in der Londoner City. Sein Schöpfer Norman Foster, der für provokante Gebäude bekannt ist, spricht von einer neuen »kulturellen und sozialen Sehenswürdigkeit«: ein 305 Meter hoher Aussichtsturm mit gläsernen Rutschen, Bars und Restaurants und einem »fliegenden Klassenzimmer« mit fantastischem Ausblick. Die Besucher sollen in Glaskugeln, die ähnlich wie Gondeln an der Außenfassade entlangfahren, einen 360-Grad-Blick auf die Stadt bekommen. 

Englische Denkmalpfleger sehen die Sache profaner: Im Prinzip handle es sich um einen riesigen Aufzugsschacht mit einer Glühbirne obendrauf. Man bemängelte unter anderem fehlende ökologische Nachhaltigkeit. Geplanter Baustart war im November 2020 – im Moment wird noch heiß diskutiert, ob die Tulpe eines von vielen Architekturprojekten bleiben wird, die fürs Papier entworfen wurden. 

XXL-WOLKENKRATZER

Eine zentrale Frage, die sich Architekturbüros und Städteplaner gerade verstärkt stellen müssen: Wie wird die Welt nach einer überstandenen Pandemie aussehen? Braucht es neue Wahrzeichen wie einen XXL-Wolkenkratzer, um den Tourismus und den Finanzmarkt anzukurbeln, wie Foster + Partners argumentieren? Oder stehen Städte vor ganz anderen Herausforderungen in Sachen Nach-haltigkeit und Klimawandel: Muss Architektur nicht smarter werden, anstatt protzige Machtdemonstration zu sein? 

»Türme sind eine Art Manifest«, sagt der italienische Architekt Stefano Boeri, der bekannt ist für seine Fassaden, die von Bäumen und Sträuchern überwuchert werden: »Sie sprechen von der realen Möglichkeit, lebende Natur und Architektur miteinander zu verbinden. Entscheidend ist, dass die Natur nicht als dekoratives Element betrachtet wird, sondern als ein Bestandteil der Architektur selbst.« Grüne Ideen sind gefragter denn je: Warum nicht ein Gewächshaus auf das abgebrannte Dach der Pariser Kathedrale Notre-Dame bauen? Wahrscheinlich wird dieses Projekt nicht verwirklicht werden, aber es wirft die richtigen Fragen auf. 

Was zeichnet gelungene Architektur aus? Ein Kriterium ist sicherlich, dass sie nach ein paar Jahrzehnten nicht bereits auseinanderbröckelt. Wer zu sehr auf die imposante Fassade schaut, vergisst oft, dass man auch darin leben muss. Bestes Beispiel für grandioses Scheitern sind die sogenannten Pencil Towers in New York City: superdünne Wolkenkratzer, die neue Maßstäbe setzten, wie schmal Hochhäuser sein können. »Billionaires’ Row« nannte man die exklusiven -Gebäude, die zwischen 2009 und 2015 in Manhattan aus dem Boden gewachsen sind. Horrende Kaufpreise lockten zahlungskräftige Klienten an. Das Vorzeigeprojekt 432 Park Avenue ist mittlerweile in einem katastrophalen Zustand, wie die »New York Times« berichtet. Lecks sorgten bereits 2018 für einen beachtlichen Wasserschaden nicht nur in den Aufzügen, die ohnehin nur selten funktionieren. Einwohner berichten von knarrenden Geräuschen, wenn der Wind weht, und der Müllschlucker klinge, als würde jemand eine Bombe fallen lassen. Vom Vorzeigeprojekt zur Wohnhölle in nicht einmal einem Jahrzehnt. 

BÜROS VS. HOMEOFFICE

Architektur steht vor der schwierigen Aufgabe, in die Zukunft zu blicken. Sie muss mitreflektieren, in welche Richtung sich unsere Gesellschaft verändert. The Helix, das geplante Hauptquartier von Amazon in Arlington, Virginia (USA), macht zumindest in Sachen erneuerbare Energie alles richtig: -viel natürliches Licht, große Grünanlagen, Anbindung an die lokale Community. Aber braucht man dieses neue Vorzeigebüro, das ohnehin noch nicht bewilligt wurde, tatsächlich? Amazon-Arbeiter sind bis Oktober 2021 im Homeoffice, und zahlreiche Tech-Riesen überlegen, ob sie nicht dauerhaft auf Arbeit von zu Hause aus setzen sollen, um so teure Büromieten zu sparen. 

Andererseits bringen umstrittene Projekte auch jede Menge Publicity. Der Schweizer Architektur-Star Peter Zumthor plant seit zehn Jahren eine Erweiterung des County Museum of Art in Los Angeles. Mittlerweile setzen sich Filmstars wie Brad Pitt und Diane Keaton für den Bau ein. Ob er jemals verwirklicht werden wird? Es bleibt spannend. 

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