© ClassiCon

Nachhaltigkeit, die sitzt: Stühle mit grünem Gedanken

Stühle waren schon immer ikonografische Möbel, denen es gelang, den jeweiligen Zeitgeist zu verkörpern. Der aktuelle Trend zu verantwortungsvoller Gestaltung und ethischem Design bringt auch bei den It-Chairs neue, spannende Materialien und Formen.

01.03.2023 - By Karin Cerny

Man fühlt sich wie in einer
künstlerischen Installation, wenn man die »Corker« betrachtet. Die Hocker sehen wie riesige Champagnerkorken aus. Sie könnten glatt in einem Museum stehen. Zum ersten Mal  aufgetaucht sind die überraschenden Möbelstücke 2012, das Schweizer Architekturbüro Herzog & de Meuron hatte sie tatsächlich für einen temporären Sommerpavillon der Londoner Serpentine Gallery entworfen. Die Zuschauer:innen konnten sie flexibel im Saal verwenden, falls sie sich nicht selbst fragten: »Ist das Kunst oder darf ich darauf sitzen?«

POP-ART AUS KORK

»Man könnte den ›Corker‹ beinahe als Pop-Art-Objekt verstehen, weil er direkt und ohne nennenswerte plastische Umformung durch Vergrößerung eines in unserer Alltagskultur bestehenden Gegenstands hervorgegangen ist«, sagt Jacques Herzog, Mitbegründer von Herzog & de Meuron, im Gespräch mit ClassiCon, dem deutschen Hersteller von Designklassikern, der die »Corker« nun in Serie gehen ließ. Kein Wunder: Die minimalistisch-organischen Sitzgelegenheiten sehen nicht nur cool aus, sie treffen auch einen Nerv der Zeit: Der in Portugal verwendete Kork stammt aus lokaler, nachhaltiger Waldwirtschaft, ist
langlebig und zu 100 Prozent recycelbar. Die samtige Haptik hebt sich angenehm von glatter Massenproduktion ab.

Nachhaltigkeit wird oft auf innovative, neue Materialien reduziert. Es gibt Stühle aus -Seegras oder Pilzmyzel, einem Netzwerk aus Fasern, auf denen Pilze wachsen. Der britische Designer Tom Dixon lässt Möbel in einer Aquakultur, also unter Wasser wachsen. Was bei all diesen spannenden Utopien oft zu kurz kommt, ist die Rückbesinnung: Es gab und gibt bereits viele nachhaltige Materialien, die man wiederentdecken könnte – wie eben Kork, der auch ideal zum aktuellen Seventies-Revival passt.

SKULPTUR AUS KARTON

Ein Klassiker an nachhaltigem Material ist auch der »Wiggle Side Chair«, den Frank Gehry 1972 erfunden hat. Er gibt einem so alltäglichen Material wie Karton eine neue ästhetische Dimension. Seine geschwungene, skulpturale Formgebung vermittelt eine Leichtigkeit, die gut zu dem recycelbaren Material passt. Wie kann man den Müll, der unweigerlich anfällt, wiederaufbereiten und neu verwenden? Kreislaufwirtschaft lautet das Zauberwort gerade in der Produktion von Stühlen, die schon immer wie kein anderes Möbelstück den aktuellen Zeitgeist auf den Punkt brachten: die neue Sachlichkeit der Marcel-Breuer-Freischwinger in den 1920er-Jahren, Fiberglas und Schichtholz, die Charles und Ray Eames schwungvoll in Form brachten, die spacige Utopie der Verner-Panton-Stühle in den 1960ern. Stühle sind die Königsdisziplin, an der sich Trends und Visionen prototypisch ablesen lassen.

Ein aktueller Ansatz: Designstühle müssen leicht, erschwinglich und umweltverträglich sein. Konstantin Grcics »Bell Chair« etwa besteht aus den Abfällen der Produktion des Möbelherstellers Magis und der lokalen -Automobilindustrie. Das neue, patentierte Material enthält fast keine neuen Stoffe und kann zu 100 Prozent wiederverwertet werden. Der Stuhl wiegt nur 2,7 Kilogramm, was ihn eineinhalb Kilo leichter als einen herkömmlichen Plastikstuhl macht. Dadurch wird das benötigte Material reduziert und weniger Energie verbraucht.

PIONIERE AUS PLASTIK

Vielen Stühlen sieht man nicht unbedingt an, dass sie recycelt sind. Nur die rote Farbe ist beim »111 Navy Chair« verräterisch, mittlerweile ein Kultsessel, dessen Prototyp 2010 vorgestellt wurde. Er ist aus 111 wiederverwerteten Coca-Cola-Flaschen hergestellt. Pate dafür stand ein Designklassiker: Der »Navy Chair« von Emeco wurde 1944 für die US-Marine entworfen und bestand zu 80 Prozent aus recyceltem Aluminium. Ein Pionier in Sachen Zero Waste ist auch -Philippe Starck, dessen »Broom Chair« von 2012 Industrieabfälle aus Holzfabriken und Kunststofffabriken vereinte.

Das belgische Label ecoBirdy hingegen hat sich bewusst dafür entschieden, dass man das Ausgangsmaterial auch im fertigen Produkt sieht. Seine Möbel sind auf die Bedürfnisse von Kleinkindern abgestimmt, sie sind leicht und doch so stabil, dass sie nicht umkippen. »Wir glauben, dass nur ein Stuhl, der für die Benutzer:innen sehr gut gestaltet ist und eine hervorragende Ergonomie aufweist, lange Zeit verwendet werden kann. Die Kombi-nation von Funktionalität und Ästhetik ist erforderlich, um nachhaltig zu sein«, sagen Vanessa Yuan und Joris Vanbriel, die Gründer von ecoBirdy.

Hergestellt werden die Möbel aus Plastikspielzeug, das zwar eine kurze Produktlebensdauer hat, aber von der Qualität sehr hochwertig ist. »Wir möchten diesen Spielsachen ein neues Leben geben. Und Kinder auf eine inspirierende und leicht verständliche Weise mit dem Konzept der Kreislaufwirtschaft vertraut machen. Deshalb sind die recycelten Materialien auch sichtbar geblieben«, so die Designer:innen. »Wir haben von Eltern gehört, dass Kinder nach dem Kauf unseres ›Charlie Chair‹ anfangen, Plastikmüll von draußen aufzusammeln, und ihre Freunde und Familie dazu ermutigen, mehr zu recyceln.«

BITTE LÄCHELN!

Nachhaltiges Design soll Freude machen, davon ist auch der spanische Designer Jaime Hayon überzeugt. Sein »Smile Stool« hat auf der Sitzfläche ein lachendes Gesicht, wobei der Mund als Tragegriff dient. Der aus amerikanischem Kirschholz gefertigte Hocker speichert mehr Kohlenstoff, als er durch den Produktionsprozess freisetzt. Das macht ihn sogar klimanegativ, zudem enthält er keine schädlichen Chemikalien. Der lächelnde Hocker war ursprünglich ein Kunstprojekt für eine Ausstellung des britischen Möbel-herstellers Benchmark, in der reflektiert werden sollte, wie sich Arbeit und Privatleben während der Pandemie verändert haben. Hayons überzeugendes Motto: Wir müssen uns daran erinnern, regelmäßig zu lächeln, das macht uns glücklicher, gesünder und hoffnungsvoller. Sein nachhaltiger Hocker erinnert uns täglich daran.

Erschienen in:

Falstaff LIVING Nr. 01/2023

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