© Konrad Limbeck

Living Salon: Wie werden wir uns in Zukunft bewegen?

Der Autoverkehr nimmt heute rund 65 Prozent des öffentlichen Raums ein. Doch mit der Klimakrise und dem Wachstum der Städte befinden wir uns in einem radikalen Mobilitätswandel. Über den Verkehr von morgen diskutieren die Mobilitätsforscherin und Stadtplanerin Katja Schechtner, die Ikea-Establishment-Managerin Sandra Sindler-Larsson und Andreas Weikhart, Vorstand des gemein­nützigen Bauträgers Wien-Süd.

19.04.2023 - By Wojciech Czaja

LIVING Wie sind Sie heute hierhergekommen?

Katja Schechtner Ich wohne in der Nähe vom Westbahnhof und bin heute zu Fuß hergekommen.

Andreas Weikhart Bus, Schnellbahn, U-Bahn. Insgesamt hat die Fahrt von meinem Büro hierher 40 Minuten gedauert.

Sandra Sindler-Larsson Ich komme direkt aus unserem Service-Office in -Vösendorf. Ich bin ebenfalls öffentlich hergekommen. Ich habe auch nur rund 45 Minuten gebraucht.

Was für ein Mobilitätstyp sind Sie in Ihrem privaten und beruflichen Alltag?

Sindler-Larsson Ich wohne in der Stadt und bin eine öffentlich Reisende. Man kommt mit wenig Umsteigen leicht und unkompliziert überallhin.

Weikhart Ich gehe viel zu Fuß, denn ich habe das Glück, dass mein Wohnort und mein Büro nicht weit voneinander entfernt liegen. Außerdem habe ich eine Jahreskarte für die Wiener Linien. Manche Strecken, vor allem für Einkäufe oder Transporte, lege ich mit dem Auto zurück.

Schechtner Früher bin ich viel mit dem Taxi gefahren, weil ich die Fahrten zwischen meinen Besprechungen auch zum Arbeiten genutzt habe. Das hat sich mit der Corona-pandemie verändert. Heute gehe ich viel zu Fuß, fahre mit den Öffis, aber nach wie vor bin ich auch eine leidenschaftliche Mitfahrerin, denn ich genieße es, während der Fahrt
schöne, interessante Gespräche zu führen.

Wie nehmen Sie Wien und Österreich, was die öffentliche und individuelle Mobilität betrifft, wahr?

Schechtner Das öffentliche Verkehrsnetz in Wien ist wirklich großartig, auch im
internationalen Vergleich.

Weikhart Auch ich nehme Wien als sehr gut erschlossen wahr, aber außerhalb der Großstädte wird es mau. Wer in Niederösterreich oder im Burgenland nicht das Glück hat, entlang einer Bahnstrecke zu leben, der hat es zum Teil echt schwer. Wenn ein- oder zweimal pro Tag der Bus stehen bleibt, dann kann man das kaum als öffentliches Verkehrsangebot bezeichnen, dann ist man mehr oder weniger gezwungen, aufs Auto umzusteigen. Das merken wir auch bei unseren Wohnbauten, die wir in Niederösterreich errichten. Die Leute wünschen sich Garagenstellplätze, und zwar nicht nur einen, sondern in der Regel zwei oder drei.

Schechtner Eines der größten Probleme in Österreich ist die starke Zersiedelung. Gemeinnützige und gewerbliche Wohnbauträger dürfen ihre Wohnbauten am Ortsrand errichten, wo sie nur mit dem Auto zu erschließen sind. Bitte das nicht als persönliche Kritik zu verstehen! Das ist ein raumplanerischer, wohnpolitischer und vor allem regionalpolitischer Systemfehler.

»Je vielfältiger das Mobilitätsangebot ist, je lustvoller es beworben wird, desto mehr Leute greifen darauf zurück. Am Ende ist die Stadt sauberer und die Bevölkerung gesünder.« Katja Schechtner, Mobilitätsforscherin, Stadtplanerin und Gastforscherin am MIT

Herr Weikhart, sind Sie als gemeinnütziger Bauträger an irgendwelche Vorlagen gebunden, was die öffentliche Erreichbarkeit Ihrer Wohnbauten betrifft?

Weikhart Nein, nicht wirklich. Wir achten sehr wohl darauf, dass wir auch in Niederösterreich eine gute Erreichbarkeit mit dem Zug bieten können, aber das ist in den meisten Gemeinden keine Vorgabe.

Die Frage der Erreichbarkeit betrifft nicht nur das Wohnen, sondern vor allem auch den Bereich Handel und Gewerbe.

Sindler-Larsson Ikea hat – wie viele andere gewerbliche Brands – in den Siebzigerjahren begonnen, seine Märkte an den Stadtrand zu setzen. Wichtig war damals eine gute Erreichbarkeit mit dem Auto, idealerweise an einer Schnellstraße oder Autobahn gelegen.
Die öffentliche Erreichbarkeit hingegen spielte damals nur eine untergeordnete Rolle. In den letzten zehn Jahren hat sich das stark verändert: Immer weniger Menschen besitzen ein Auto, öffentliche Erreichbarkeit und ein Leben im Einklang mit Klima und Natur haben an
Wichtigkeit zugenommen.

Inwiefern wirkt sich das auf den Handel aus?

Sindler-Larsson Statt die Leute mit dem Auto an den Stadtrand zu locken, hat Ikea beschlossen, dorthin zu gehen, wo die Menschen ohnehin schon sind – in die Stadt.

So wie hier. Wir befinden uns hier im neuen IKEA am Wiener Westbahnhof. Es gibt weltweit rund 450 Ikea-Filialen, doch diese hier ist die allererste, die ohne Parkplatz und ohne Garage auskommt.

Sindler-Larsson Für uns war klar: Wenn wir schon in die Stadt ziehen, dann kann das kein Standard-Ikea sein, sondern muss etwas Neuartiges und Innovatives sein, das in die Stadt passt.

Schechtner Die Idee, keine Garage und keinen Parkplatz zu errichten, gab es also schon von Anfang an?

Sindler-Larsson Ja. Ein klassischer Ikea besteht aus zwölf Komponenten – unter anderem aus Parkplatz, Showroom und Selbstbedienungslager. Der City-Ikea am Westbahnhof verzichtet auf einige dieser Komponenten. Wir haben ihn also nicht nur in der Größte geschrumpft, sondern auch in der Komplexität.

Wie funktioniert das Einkaufen? Welches Logistik- und Mobilitätskonzept steckt da dahinter?

Sindler-Larsson Nachdem wir uns dort angesiedelt haben, wo uns die Menschen ganz einfach zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit den öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen können, haben wir ganz auf Parkplätze verzichtet. Kaufen kann man hier alles, mitnehmen allerdings nur das, was in eine blaue »Frakta«-Tasche passt und was man mit der U-Bahn transportieren kann. Die Möbel und größeren Stücke werden innerhalb von 24 Stunden – mit Elektrotransportern, wohlgemerkt – aus unserem neuen Zentrallager in Strebersdorf geliefert.

Wie wird das Konzept angenommen?

Sindler-Larsson Das Konzept wurde von Anfang an sehr gut angenommen. Die Besucher:innen kommen nicht mit dem Auto, sondern größtenteils mit den Öffis.

»Wir wissen, dass wir etwas tun müssen. Und wir brauchen dazu politische Unterstützung und rechtliche Rahmen­bedingungen. Ohne diesen Rückhalt wird es nicht gehen.« Andreas Weikhart, Vorstand des gemeinnützigen Wohnbauträgers Wien-Süd

2022 wurden Sie für den innovativen City-Ikea mit dem Österreichischen Bauherrenpreis
ausgezeichnet.

Sindler-Larsson Ja, und das freut uns sehr! Unsere Bemühungen haben sich gelohnt.

Herr Weikhart, ein Projekt ohne Garage und ohne Pkw-Stellplatz, wäre das für einen gemeinnützigen Bauträger wie die Wien-Süd vorstellbar?

Weikhart Ganz ehrlich? Nein. Es ist zwar wünschenswert, aber leider nicht wirklich vorstellbar. Unsere Projekte liegen – wie der Name Wien-Süd schon sagt – vor allem im Süden von Wien beziehungsweise an den Stadträndern. Wir haben ein einziges Projekt innerhalb des Gürtels! Und damit haben wir natürlich auch andere Fragestellungen als Bauträger, die eher in den Innenbezirken bauen.

Ihre Mieter:innen verlangen nach Garagenstellplätzen?

Weikhart Und wie! Denn während der Pkw-Anteil in der Stadt sukzessive zurückgeht, wie wir aus der Statistik wissen, und wir von unseren Kolleg:innen hören, dass immer mehr Garagen in den Innenbezirken und an öffentlich gut erschlossenen ­Verkehrsknotenpunkten leer stehen, sind unsere Garagen gut vermietet und meistens ziemlich voll.

Einige gemeinnützige Wohnbauträger errichten Mobility-Points mit anmietbaren Fahrzeugen wie etwa E-Cars, E-Bikes, E-Rollern und Lastenrädern. Wie ist das bei Ihnen?

Weikhart Wir haben das bislang dreimal ausprobiert, und leider sind alle drei Ange-bote für E-Mobility bislang gescheitert. Das finde ich sehr bedauerlich.

Worauf führen Sie das zurück?

Weikhart Bei unserem letzten Projekt haben wir den Mobility-Point als Pilotprojekt gestartet, und solange die Elektroautos kostenlos waren, wurde das Angebot gut wahrgenommen. Nach der Testphase haben die Leute die E-Cars wieder stehen gelassen und sind zum eigenen Auto zurückgekehrt.

Schechtner Wie lange hat das Pilotprojekt gedauert?

Weikhart Sechs Wochen.

Schechtner Das ist leider viel zu kurz. Erstens: Verhaltensänderungen brauchen viel Zeit, denn der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Und zweitens: So ein Pilotprojekt wird nur dann funktionieren, wenn die Sharing-Mobility nicht als Zusatzangebot existiert, sondern als ernsthafte Alternative. Nicht als Sowohl-als-auch, sondern als Entweder-oder.

Wie müsste man so ein Konzept stattdessen aufsetzen?

Schechtner Als Alternative zum Pkw-Besitz. Mit entsprechenden Incentives, mit einer Reduktion der Stellplätze, mit einer klaren Darstellung der ökonomischen Vorteile für jede:n Einzelne:n.

In Zürich gibt es einige Wohnbaugenossenschaften, die in ihren Statuten den Besitz eines eigenen Autos untersagen. Dafür ist in der Wohnungsmiete eine Jahreskarte für den Schweizer Nahverkehr inkludiert. Wäre so etwas auch in Wien vorstellbar?

Schechtner Die Schweiz ist hier extrem fortgeschritten, was das betrifft, und hat natürlich auch ein landesweit perfekt ausgebautes öffentliches Verkehrsnetz. In der Schweiz ist so ein Konzept funktionsfähig. In Österreich müsste man es wahrscheinlich ein bisschen anpassen.

Weikhart Ich kenne die Schweizer Genossenschaftsprojekte aus Berichten und Publikationen. Aber als Realist und Pragmatiker sage ich Ihnen: So etwas wäre in Österreich nie und nimmer realisierbar!

Warum nicht?

Weikhart Es gibt zu wenig Erfahrung, es gibt keine klare Vorgaben, und die Entwicklung eines solchen Sharing-Angebots liegt nicht im Kernkompetenzbereich von uns gemeinnützigen Wohnbauträgern. Wir sind für die Schaffung leistbaren Wohnraums zuständig, nicht für die Einführung innova­tiver Mobilitätshubs. Dazu bräuchten wir ­entsprechende Partner.

Sindler-Larsson Ich bin erstaunt, wie viele Themen Sie als Bauträger zu beachten haben. Gleichzeitig bin ich verwundert, dass es auf rechtlicher und raumplanerischer Ebene scheinbar so wenig Vorgaben und so wenig öffentliche Angebote zur Partnerschaft gibt.

Schechtner Das Geld, um die raumplane­rischen Probleme zu lösen, ist da. Nur setzen
wir es derzeit falsch ein. Nur ein Beispiel: Wenn wir die Garagenverpflichtung und das Stellplatzregulativ reduzieren und endlich aufhören würden, den Individualverkehr auf so vielen Ebenen querzufinanzieren, dann hätten wir volkswirtschaftlich betrachtet genug Geld, um jedes noch so kleine Dorf im Halbstundentakt an den Postbus anzubinden. Dazu braucht es aber vor allem eine nationale Raumordnung, die wir bis heute nicht haben.

»Immer weniger Menschen besitzen ein Auto. Daher hat Ikea beschlossen, dorthin zu gehen, wo die Menschen ohnehin schon sind – in die Stadt.« Sandra Sindler-Larsson, Market-Establishment-Managerin bei Ikea Österreich

Frau Schechtner, Sie sind als Stadtplanerin und Mobilitätsforscherin tätig, früher u. a. auch für die OECD in Paris und die Asian Development Bank in Manila. Welche Mobilitätstrends sind derzeit zu beobachten?

Schechtner Ganz generell erkenne ich, dass das Mobilitätsangebot in seiner Bandbreite weltweit deutlich zugenommen hat. In vielen Städten gibt es unterschiedliche Carsharing-Plattformen, aber auch die sogenannte Active Mobility hat zugenommen – etwa E-Bikes, E-Roller, Lastenrad und so weiter. Je vielfältiger das Angebot ist, je lustvoller es beworben wird und je mehr Infrastruktur, wie etwa Apps, Stellplätze und Ladestationen, geschaffen wird, desto mehr Leute greifen darauf zurück. Am Ende ist das Stadtklima gemäßigter, die Stadt sauberer und ruhiger und die Bevölkerung fitter und gesünder.

Welche Städte haben die Nase vorn?

Schechtner Derzeit vor allem Paris mit seinem Ausbau des Radwegenetzes, dem Rückbau von Straßen und der Einführung einer fast flächendeckenden Tempo-30-Zone. Aber auch in Kopenhagen, Amsterdam, Stockholm und Barcelona tut sich viel.

Frau Sindler-Larsson, was könnte das für den Handel bedeuten?

Sindler-Larsson Für mich ist das ganz klar ein Zeichen, dass wir den Handel und die Lebendigkeit wieder in die Stadt zurückbringen müssen. In einigen Großstädten, wie etwa in Paris, gibt es schon kleinere Ikea-Einrichtungshäuser. Außerdem gibt es sogenannte ­Planungsstudios, wie etwa in der Linzer Innenstadt. Weitere Projekte dieser Art sind bereits in Planung.

Wird es einen weiteren City-Ikea nach ­Wiener Vorbild geben?

Sindler-Larsson Wir sind jetzt dabei, das Projekt zu evaluieren und daraus zu lernen. Ein konkreter Standort ist noch nicht in Planung, aber generell ist so ein Ikea in fast jeder europäischen Großstadt denkbar.

Und welche Konsequenzen hätte das für den Wohnbau?

Weikhart Wir wissen, dass wir etwas tun müssen. Und wir brauchen dazu politische Unterstützung, rechtliche Rahmenbedingungen und auch eine entsprechende Erhöhung der Fördermittel. Ohne diesen Rückhalt wird es nicht gehen.

Zum Abschluss möchte ich Sie nach Ihrer ganz persönlichen Vision befragen: Wie werden wir uns in Zukunft bewegen?

Weikhart Es braucht einen Ausgleich. Ich sehe eine Zukunft, in der wir als Bauträger nicht mehr gezwungen sein werden, das Geld für teure unterirdische Garagen auszugeben – sondern für noch bessere und noch schönere Wohnungen mit tollen Grünanlagen.

Sindler-Larsson Ich sehe die Stadt als Lebensraum. Die Wege zwischen Wohnen, Arbeit, Handel, Bildung, Kultur, Gesundheit und Freizeit sind in Zukunft so attraktiv, dass wir uns vor allem zu Fuß und mit dem Fahrrad bewegen werden.

Schechtner Viel Grün, frische Luft, wenig Verkehrsgeräusche, keine Parkplätze auf der Straße und ein vielfältiger öffentlicher Verkehr. In meiner Zukunft wird der Gürtel die grünste, leiseste und begehrteste Lage in Wien sein.

»Die Wege zwischen Wohnen, Arbeit, Handel, Bildung, Kultur, Gesundheit und Freizeit müssen in Zukunft so attraktiv sein, dass wir uns vor allem zu Fuß und mit dem Fahrrad bewegen werden.« Sandra Sindler-Larsson, Market-Establishment-Managerin bei Ikea Österreich

Sandra Sindler-Larsson (52) studierte Architektur und arbeitete in der Schweiz und in Schweden als Architektin. Seit 2014 ist sie Market-Establishment-Managerin bei Ikea Österreich und war als Projektleiterin maßgeblich an der Entwicklung des 2021 eröffneten City-Ikea am Wiener -Westbahnhof beteiligt. 2022 wurde sie mit dem Österreichischen Bauherrenpreis
ausgezeichnet. ikea.com

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