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Sie ist die dynamischste und jüngste Stadt der Niederlande. Hier wimmelt es von Subkulturen und Szenen, hier wird in Ideenwerkstätten gearbeitet. Das ruppig-raue Rotterdam ist eine Kunstdestination, in der es bei jedem Besuch Neues zu entdecken gibt.

20.04.2023 - By Maik Novotny

Die ganze Kunstwelt schaut in diesem Frühjahr nach Amsterdam: Die Tickets für die große Vermeer-Schau waren schon im März bis zum letzten Tag ausverkauft. Doch während sich dort alles vor dem »Mädchen mit dem Perlenohrring« drängt, gibt sich die zweite Stadt der Niederlande ganz cool. Man ist versucht, zu sagen: wie immer. Denn während in Amsterdam repräsentiert wurde, krempelte Rotterdam die Ärmel hoch und machte die Arbeit. Hier ging es schon immer schneller und direkter zu. Amsterdam hat das Rijksmuseum und Van Gogh,
Rotterdam hat Kräne, Schiffe und Büros. Amsterdam ist eng, Rotterdam hat Platz. Amsterdam ist hübsch, aber die aufregende Architektur passiert an der Nieuwe Maas. Amsterdam schaut zurück, Rotterdam schaut nach vorne.

Diese zukunftsfreudige Pragmatik macht die Hafenstadt zu einem perfekten Nähr-
boden für zeitgenössische Kunst. Denn hier gibt es die Hallen, Lofts, Fabriken und
ehemaligen Autohäuser, in denen sich Kunstschaffende, Galerien und Workshops ansiedeln können, ohne horrende Mieten zu zahlen. Noch dazu hat Rotterdam, die »zweite Stadt«, eine Museumslandschaft, die sich keineswegs hinter der Nummer eins verstecken muss. Also nichts wie hin zu einem Kunsttrip mit viel Frischluft.

Wo soll ein Kunsttrip beginnen? Wenn eine Stadt schon einen Museumpark hat, fällt die Entscheidung leicht. Zentral gelegen, finden sich hier gruppiert an und um die 1927 eröffnete große Grünfläche gleich mehrere der musealen Schwergewichte Rotterdams. Die Kunsthal, 1992 eröffnet, ein Frühwerk des ­Rotterdamer Architekturstars Rem Koolhaas, ist nicht nur das ideale Entree in die zeitgenössische Kunst, sondern auch in den Charakter dieser Stadt. Rau, hart, eckig, industriell, ohne Scheu vor Konfrontation, aber dabei einladend und ­aufregend. Die Kunst, hier in stets wechselnden Ausstellungen präsentiert, ist genauso.

FLACH UND HOCH

Ist die Kunsthal flach wie das Land, ragt unsere nächste Destination unübersehbar hoch in die Luft, gekrönt von einem kecken Dach. Hier ist der Tempel der Architektur und des Designs,
in beidem sind die Niederlande schließlich ­Spitzenklasse. Das Nieuwe Instituut beherbergt eine der größten Architektursammlungen der Welt. Wer hier ein Ticket erwirbt, darf damit auch das Sonneveld-Haus besichtigen, eine ­Ikone der modernen Architektur in den ­Niederlanden und ausgezeichnet restauriert.

Von hier an einer weiteren Bauikone ­Rotterdams vorbei, den keck gekippten Baum­hauswürfeln von Piet Blom. Denn dahinter wartet eine besondere Galerie auf uns: die ­Garage Rotterdam, die sich passend zu ihrem Ort benannt hat, einer ehemaligen VW-Garage. Neben vier Ausstellungen pro Jahre wird hier auch das Begleitprogramm »Brandstof« kuratiert, und den regelmäßigen Abend »Natafelen« mit Drei-Gänge-Menü von Chefkoch Laurence van Bergeijk gibt es obendrein.

Einladend

Die 1992 eröffnete Kunsthal, entworfen von Rem Koolhaas.

Wir sind noch nicht ganz fertig mit dem Museumpark. Denn hier steht seit 2021 etwas, das von Kritikern schon als »riesige IKEA-Salatschüssel« bezeichnet wurde. Das schauen wir uns genauer an. Es handelt sich um das Depot Boijmans Van Beuningen, die erstmals zugängliche Sammlung des gleichnamigen Museums direkt daneben.

Wie in einem begehbaren Schaukasten kann man hier die beeindruckende Dimension von über 150.000 Werken erleben, eine Ergänzung zum nicht minder faszinierenden Erlebnis im Museum selbst. Denn das Boijmans Van Beuningen ist nicht nur eine der großen Schatzkisten flämischer Malerei, sondern zeigt auch Werke großer Namen der Gegenwart bis zu Yayoi Kusama.

ÜBER DEN FLUSS

Gleich hinter dem Museumpark finden wir im Oude Westen eines der lebendigsten Quartiere der Stadt voller Shops, Cafés – und Galerien. Hier hat seit 2012 die Galerie Joey Ramone ihre Türen geöffnet, ein regelrechtes Kulturkraftwerk, denn die hyper­aktiven Macher:innen organisieren nicht nur sechs Ausstellungen pro Jahr, sondern auch Talks und Lesungen und sind zudem am Rotterdamer Filmfestival beteiligt.

Vom Film zur Fotografie ist es ein ­Katzensprung, vom Oude Westen zum Nederlands Fotomuseum wagen wir einen Sprung über den Fluss. Seit 25 Jahren verbindet die elegante Erasmusbrug das Zentrum mit dem bis dahin vernachlässigten Süden, und inzwischen ist hier ein regelrechtes Maas-Manhattan entstanden. Hier, wo früher die transatlantischen Dampfer ablegten, hat das Fotomuseum im ehemaligen Werkstättenhaus der Holland-Amerika Lijn einen idealen Standort für seinen Fokus auf erzählerische Dokumentations- und ­Reportagefotografie gefunden.

Schau, Kästen!

Exponate im Museum Boijmans Van Beuningen.

Wenn Sie einen Kunstführer in der Hand haben, der älter als drei Jahre ist, werden Sie vergeblich nach dem Kunst­instituut Melly suchen, dabei ist seine Geschichte deutlich länger. 1990 gegründet als Witte de With Center for Contemporary Art, wurde der Streit um den Namen (Witte Corneliszoon de With war ein Admiral des 17. Jahrhunderts) zu einem Politikum. Die koloniale Vergangenheit der Niederlande wird heute kritisch beleuchtet, und das Museum änderte 2020 nach langen Debatten seinen Namen. Inhaltlich knüpft man an die ­eigene Vergangenheit mit Direktoren wie Chris Dercon an, jetzt mit umso mehr ­gesellschaftspolitisch relevanten Themen.

EIN ZELT FÜR DIE KUNST

Im selben Haus befindet sich die Galerie TENT, der Ausstellungsraum des CBK (Center for Visual Arts) Rotterdam, das sich seit 1982 der Unterstützung heimischer Künstler:innen widmet und intensiv an der Sichtbarkeit und Vermittlung der Kunst in der Stadt arbeitet. Neben der Galerie betreibt man beispielsweise ein Programm für Skulpturen im öffentlichen Raum. Hier
ist also der ideale Ort, um auf Tuchfühlung mit der kulturellen Identität Rotterdams zu kommen, in der auch Aspekte wie ­Arbeit, Industrie und Migration zur ­Sprache kommen.

Gleich nebenan wartet die letzte Destination des Kunstwochenendes auf uns. Der freundliche Name MaMA lässt erahnen, dass es hier inklusiv zugeht, denn MaMA versteht sich als Plattform für junge Talente und hat ein offenes Ohr für die Subkulturen einer Stadt, deren kulturell diverse Bewoh­ner:innen mit viel Macher:innenstolz ihre eigenen Ausdrucksformen von Hip-Hop bis Bildhauerei finden und vielfältige Communitys bilden. Was war noch mal Amsterdam? Schon vergessen?

Verlorenes Paradies

Die Küstenlandschaft Rotterdams vor der Zerstörung, dokumentiert von den Künstler:innen Noëlle Ingeveldt und Juriaan van Berkel.

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