© Stijn Bollaert

Grobe Lässigkeit: Charismatische Bauwerke aus aller Welt

Eleganter Putz, exquisite Farben und teuerste Materialien in den Innenräumen? Das kann jeder! Diese außergewöhnlichen Projekte in aller Welt zeigen, dass auch mit wenigen Handgriffen tolle, charismatische Bauwerke entstehen können. Eine Reise durch die Welt der Archaik – und eine Ode an Rough and Raw.

18.12.2020 - By Wojciech Czaja

Die alten Farb- und Lackschichten haften an den genieteten Stahlsäulen, mal rot, mal grün, mal magenta, und in der Luft liegt – ist man fast geneigt zu glauben – noch der Duft von Ruß und schwerem Maschinenöl – gerade so, als sei die letzte Lok vor we-nigen Minuten erst aus der Halle geschoben worden. Aber das, sagt der Architekt, sei pure Absicht gewesen, denn wenn man schon die Möglichkeit habe, mit so einem Raum zu arbeiten, dann müsse man auch den Mut aufbringen, seinen rohen, unpolierten Charakter, so gut es eben geht, zu bewahren. 

»Die Lokomotivhalle wurde 1932 errichtet, und wahrscheinlich gibt es in ganz Tilburg keinen einzigen Einwohner, der sich nicht irgendwann einmal nachts in die Werkstatt der Nederlandse Spoorwegen hineingeschlichen hat«, sagt Gert Kwekkeboom, Partner im holländischen Büro
Civic Architects, das das Projekt gemeinsam mit Mecanoo Architects, Braaksma & Roos sowie Pe-tra Blaisse und Donkergroen auf Schiene gebracht hat. »Diese Halle ist ein emotionales Denkmal, das im kollektiven Gedächtnis dieser Stadt fest verankert ist. Schön, dass sich die Stadtregierung dazu entschieden hat, das Bauwerk und seine einzigartige Geschichte zu erhalten und hier die neue Stadtbibliothek anzusiedeln.« 

Wo einst Loks geflickt, geschweißt, geschraubt wurden, befindet sich nun eine Werkstatt des Netzwerkens und der Wis­sensvermittlung. Die im Vorjahr eröffnete LocHal beherbergt nämlich nicht nur die städtische Bücherei, sondern auch ein Café, Coworking-Spaces, Mixed-Media-Bereiche sowie unterschiedlich große, anmietbare Konferenzräume. Zu den hier stattfindenden Veranstaltungen zählen Lesungen, Podiumsdiskussionen, Hackathons, Makerspace-Events und interdisziplinäre Thinktanks. 

»Die größte Herausforderung war zweifelsohne die Haustechnik, denn so ein einst industriell genutztes Baudenkmal erlaubt es nicht, mit Wärmedämmung, Dreischeiben-Verglasung und gewohnten Klimakomfort-Vorstellungen zu agieren«, sagt Kwekkeboom. Der Großteil der Halle wurde daher als witterungsgeschützter Außenraum gedacht, in dem man im Sommer mitunter ins Schwitzen kommt, während einem der Kellner im »StadsCafé« im Winter bei Bedarf eine Wolldecke serviert. Temporäre Aufenthaltszonen wie etwa Lesebereiche, Bühne und Auditorium können mit riesigen Vorhängen abgetrennt und lokal beheizt oder gekühlt werden. Lediglich ständige Arbeitsbereiche wie etwa Coworking-Büros, Konferenzräume und der gesamte Verwaltungsapparat befinden sich in thermisch abgetrennten Haus-in-Haus-Zonen, die mit gewohntem ­Innenraumklima aufwarten. Der Architekt dazu: »Wer eine rohe, unbehübschte Seele ­
will, der muss Kompromisse eingehen.« 

Kwekkebooms Mantra ist bei Weitem kein Einzelfall, sondern zieht sich aktuell durch Dutzende, sogar Hunderte Projekte in aller Welt. Das Spektrum der bewusst zelebrierten Roughness umfasst nackte Ziegelwände, unverputzte Betonoberflächen, ungehobeltes Holz, bucklige Steinwände, abgeblätterte Farb- und Tapetenreste, mit Ketten und Seilen zusammengebundene Bambuskonstruktionen – und ganz allgemein ästhetisch inszenierte Elemente von Verfall und Zerstörung. Wie faszinierend der Zahn der Zeit sein kann und welch atemberaubende Stimmungen er hervorzurufen vermag, beweist nicht zuletzt die imposante, 200-seitige »Augenreise zu ver­lassenen Orten« des steirischen Fotografen Thomas Windisch, erschienen 2019 im Ver­lag Christian Brandstätter. 

»Ich liebe es, mit dem zu arbeiten, was die Zeit einem schenkt, und das hervorzuheben, was sich an Handwerks- und Gebrauchsspuren in einem Gebäude offenbart«, sagt der Mün­chner Architekt Peter Haimerl. In seinem 1991 gegründeten Büro konzentriert er sich in erster Linie auf Projekte, die die Grenzen konventioneller Architektur überschreiten. Seine Bauten spalten die Gemüter: Die einen fühlen sich vor den Kopf gestoßen, die anderen erkennen in den nackten, unbehandelten Oberflächen eine Poesie und Ästhetik von seltenem Wert. So geschehen auch in Haimerls eigenem Haus am Schedlberg im Bayerischen Wald, das er aufkaufte und mit wenig Aufwand zu einem archaischen Ort für Seminare und Kamingespräche umbaute. 

Unter den vielleicht schönsten und seelisch wärmsten Rough-Projekten findet sich auch das Privathaus Iturbide in Mexico City, genauer gesagt im Stadtteil Coyoacán, in dem sich auch das Leo-Trotzki-Museum und die weltberühmte Casa Azul der mexikanischen Künstlerin Frida Kahlo befindet. Auf einer kleinen Parzelle mit sieben Metern Breite und 14 Metern Tiefe schufen die Architekten Taller Mauricio Rocha und Gabriela Carrillo eine wahre Ode an die rohe Baukunst. Verwendet wurden unbehandelte Ziegelsteine. Verputzte Wände wird man innen und außen vergeblich suchen. Erst kürzlich wurde das Projekt mit dem Brick Award 2020 ausgezeichnet. 

Erschienen in:

Falstaff LIVING Nr. 07/2020

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