Die Natur ins Haus holen – Wohnen im Grünen weltweit
Ob im Dschungel oder im Wienerwald: Viele sehnen sich nach Nähe zur Natur. Mit üppiger Vegetation, zurückhaltender Architektur und fast unsichtbaren Fassaden ist dieser Wohntraum realisierbar.
11.05.2022 - By Wojciech Czaja
Keine Metropole dieser Welt liegt näher am Äquator als der Stadtstaat Singapur. Kein Wunder also, dass die Stadt mit ihren sechs Millionen Einwohnern in einigen Teilen einem dichten, üppig grünen Dschungel gleicht. »Genau davon haben sich unsere Kund:innen inspirieren lassen«, sagt Yong Ter, Gründer des in Singapur beheimateten Büros Chang Architects. »Sie haben davon geträumt, mitten in einem tropischen Paradies zu leben. Diesen Wunsch wollten wir ihnen erfüllen.« Von der Straße aus betrachtet sieht man dem Haus seine grüne Schatzkammer kaum an. Unten ein abweisender Steinsockel, darüber eine hermetische Fassade, die mit sägerauen Baumscheiben verkleidet ist, darin scheinbar zufällig platziert ein paar Fenster als einzige, lichtbringende Beweise einer möglichen Wohnnutzung.
Doch dann öffnet man die Türe und betritt einen wuchernden Urwald mit Palmen, Farnen, Mammutblättern, Felswand, Wasserfall, tropischem Schwimmbecken, ausgewachsenen Kois und von oben hinabhängenden Lianen. Fehlen nur noch Tarzan und Jane. Auf 1.500 Quadratmetern Grundstücksfläche bieten die »Cornwall Gardens«, so der offizielle Titel dieses einzigartigen Hauses, Platz für eine Großfamilie mit vier Generationen. Im Zentrum steht die Natur mit ihrem Grün und Blau, rundherum verlaufen offene Laubengänge und luftige Stege, die auf geknickten, verwunschenen Wegen die unterschiedlichen Wohnbereiche und Einliegerwohnungen miteinander verbinden.
»Zwei Leitideen haben diesen Entwurf geprägt«, sagt Architekt Ter. »Erstens wollten wir hier einen Ort kreieren, in dem eine harmonische Koexistenz zwischen Mensch und Natur möglich ist. Und zweitens war es unser Bestreben, nicht nur in den klassischen Dimensionen Haus und Garten zu denken, sondern mehrere Schichten von intimen, privaten, halböffentlichen, öffentlichen und verwilderten Innen- und Außenräumen zu schaffen, die graduell ineinander fließen. Fast so, als würde man am Weg von einem Raum in den anderen ein Stück Stadt durchqueren.«
»Unser Bestreben war, nicht nur in den klassischen Dimensionen Haus und Garten zu denken, sondern mehrere Schichten von intimen, privaten, halböffentlichen, öffentlichen und verwilderten Innen- und Außenräumen zu schaffen, die graduell ineinander fließen.« – Yong Ter, Chang Architects
Doch der Dschungel hat nicht nur atmosphärische, sondern auch klimatische Vorteile: Die Blätter spenden Schatten, reinigen die Luft, fungieren als CO2-Filter und sorgen gemeinsam mit dem zentralen Wasserbecken für Verdunstungskälte und somit für spürbare Abkühlung der umgebenden Luft. Auf dem Dach befinden sich begehbare Beete mit Kräutern und Nutzpflanzen, deren tonnenschweres Erdvolumen zugleich wertvolle Dienste bei der Wärmedämmung erweist. Und als wäre das alles nicht genug, wurde auch in der Auswahl der Materialien auf Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung geachtet: Fenster, Türen, Holzböden und Wandverkleidungen stammen zum überwiegenden Teil aus dem alten Wohnhaus und wurden hier reused und recycelt.
Aber nicht nur in tropischen Gefilden kann man die Nähe zur Natur zelebrieren. Auch in nördlicheren Breitengraden lässt sich die materielle und atmosphärische Distanz zwischen Innen- und Außenraum, zwischen Architektur und Gartenlandschaft auf ein Minimum reduzieren. Kein gebautes Exempel in der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts zeigt dieses Bestreben klarer und radikaler als das »Farnsworth House« in Plano, Illinois, rund 60 Kilometer westlich von Chicago. Für die Chicagoer Ärztin Edith Brooks Farnsworth errichtete der damals schon weltberühmte Architekt Ludwig Mies van der Rohe 1951 ein rund 140 Quadratmeter großes Haus aus Stahl und Glas – oder, wie der Architekt es selbst bezeichnete, »aus praktisch nichts«. Auch wenn die Auftraggeberin mit ihrem Haus zutiefst unglücklich war und sich die Wege der beiden vor Gericht trennten, dient das »Farnsworth« bis heute vielen Architekt:innen als Vorbild.
»Ja, ich gebe zu, auch ich habe mich von diesem Haus inspirieren lassen«, sagt Dominik Aichinger, der für seinen Bauherrn, einen weitgereisten Unternehmer, der auf beruflichen Wegen bereits die halbe Welt erkundete, in Zusammenarbeit mit Designkollektiv am Stadtrand von Wien ein fast ebenso dematerialisiertes Stück Architektur unter dem Namen »Kühlhaus« realisierte. »Einerseits wollten wir die umliegenden Wohn- und Kleingartenhäuser visuell ausblenden, andererseits die Aufmerksamkeit auf den Garten und den Lainzer Tiergarten lenken und die Natur ins Haus hereinholen.« Ein weit austragendes Dach und eine fast unsichtbare Glasfassade, die sich mit einem Handgriff zur Seite schieben lässt, machen das Vorhaben möglich. »Viele Architekt:innen träumen davon, die Hülle des Hauses und die Fensterrahmen verschwinden zu lassen«, sagt Andrea Zürcher, Chief Marketing Officer von Sky-Frame.
Das 1993 gegründete Unternehmen hat sich auf architektonische Fensterlösungen im High-End-Bereich spezialisiert und produziert Schiebefenster mit nur 20 Millimeter Profilstärke. »Dank der extrem schlanken Profile liegt der Glasanteil bei 98 Prozent. Damit wird das Fenster fast unsichtbar.« Ob Wien, Chicago oder Singapur: Im Ausreizen der Grenzen zwischen innen und außen werden Sturm, Regen, Nebel, Schneefall und tropischer Sonnenschein zum elementaren Bestandteil des Wohnens. Es ist, als wohnte man im Freien.