Die Kunst geht auf Reisen
Divers, postkolonial, global: Die Kunst geht 2022 auf große Entdeckungsreise. Indonesische Reisspeicher, »lumbung« genannt, dienen zur kollektiven künstlerischen Vorratshaltung. Mensch und Körper treten ins Spannungsfeld von Metamorphose, Technologie und Erde. Ein Streifzug von Wien, Venedig über Kassel nach Basel.
16.02.2022 - By Stefan Musil
Reisen, Grenzen überschreiten. Das ist wohl der wichtigste Kunsttrend des Jahres. So macht es Corona möglich, dass eine seltene Konstellation, zuletzt 2017 erlebt, 2022 wieder eintritt: Die zwei großen Weltkunststerne, die Biennale Arte in Venedig und die alle fünf Jahre stattfindende Weltkunstzusammenschau, die documenta in Kassel, leuchten am selben Jahreshimmel.
Venedigs Kunstbiennale hätte dabei schon im ungeraden letzten Jahr stattfinden sollen. Doch da wurde die 2020 ausgefallene Architekturbiennale nachgeholt. Dafür beginnt man in Venedig diesmal erstaunlich früh, ab 23. April. Die documenta 15 eröffnet am 18. Juni. Drum herum drängeln sich auch noch zwei der wichtigsten Kunstmessen im ersten Halbjahr: die Art Basel, die zwei Tage vor der documenta öffnet, und die große Fine-Art-Messe Tefaf in Maastricht, die vom Frühjahr in den Juni geschoben wurde (25. bis 30. 6.).
Viele spannende Kilometer für alle, die wissen wollen, was angesagt ist. Die Kunstwelt wird zur großen Bühne. Das geht natürlich auch zu Hause, wenn sich im Herbst (ab 22. 10.) das mumok in Wien zu seinem 60-jährigen Jubiläum eine Schau schenkt, in der man sich den »theatralen und bühnenbezogenen Darstellungsformen der Kunst seit den 1960er-Jahren« widmet. Das lässt sich auch eine Cindy Sherman nicht zweimal sagen und stürmt »On Stage«, um grandios ironisch Stereotypen und weibliche Rollenbilder zu hinterfragen.
Das reiht sich perfekt in die Vorgaben durch Venedigs Biennale-Kuratorin Cecilia Alemani, die ihre Ausstellung im Padiglione Centrale und im Arsenale unter den surreal inspirierten Titel »The Milk of Dreams« gestellt hat: »Die Ausstellung nimmt uns mit auf eine imaginäre Reise durch Metamorphosen des Körpers und Definitionen des Menschseins«, meint sie und stellt drei aktuelle Kunstfragen zur »Darstellung von Körpern und ihren Metamorphosen«, zur »Beziehung zwischen Individuen und Technologien« und zur Verbindung zwischen »Körper und Erde«.
Jakob Lena Knebl und Ashley Hans Scheirl sprechen dafür passend ihre »Invitation of the Soft Machine and Her Angry Body Parts« im österreichischen Pavillon aus, um lustvoll die gesellschaftlichen Rollenzuschreibungen, die »immer auch an Geschlecht, sexueller Orientierung, Hautfarbe und Status festgemacht« sind, zu unterminieren, meint mumok-Direktorin Karola Kraus, die den Beitrag kuratiert. Knebl und Scheirl »proben ihr eigenes Stück, indem sie Systeme durcheinanderbringen und Hybride produzieren, die sich mit der Identität von Stilen, Medien, Materialität und Strömungen in der Kunst- und Designgeschichte auseinandersetzen«, so Kraus.
Horizonterweiterung ist ebenso angesagt, wenn sich etwa die Grande Nation diesmal mit der in Frankreich geborenen algerischstämmigen Zineb Sedira in Venedig präsentiert und damit auch der eigenen kolonialen Vergangenheit stellt. Denn Sedira thematisiert in ihren Arbeiten den Kolonialismus, hinterfragt Geschichte und das kollektive Gedächtnis. Ihr künstlerisches Vokabular setzt dabei multimedial auf Autobiografisches, Fiktion und Dokumentarisches.
Großbritannien steht dem kaum nach. Mit der britischen afrokaribischen Künstlerin Sonia Boyce wird erstmals eine schwarze Frau nach Venedig schickt. Boyce begann in den 1980ern als wichtige Akteurin des Black Arts Movement, wurde zunächst mit Zeichnungen bekannt, verfolgt aber inzwischen in ihren Arbeiten mit Film, Fotografie und in multimedialen Installationen einen integrativen und partizipatorischen Ansatz.
Lumbung in Kassel
Was sich in Venedig relativ konkret anhört, scheint in Kassel noch etwas im Ungefähren zu liegen. Um die gängigen Spielregeln aufzubrechen, hat man die künstlerische Leitung der documenta 15 dem Künstlerkollektiv ruangrupa aus Indonesien übertragen. Eine »kollektivistische Ausrichtung« ist gewünscht, Postkolonialismus soll auch Thema sein und der Blick weit weg aus gewohnten europäischen, westlichen Bahnen in neue, bis dato kaum bekannte (Kunst-)Welten gerichtet werden. Ruangrupa brachte dafür als konzeptuelle Keimzelle die »lumbung« aus Indonesien mit. Dabei handelt es sich um eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune, in der die überschüssige Ernte gelagert wird. Die Teilnehmer bislang wurden unkonventionell über die Obdachlosenzeitung »Asphalt« veröffentlicht: 14 Kollektive, Organisationen, Institutionen und 54 Künstlerinnen und Künstler, die meisten kaum bekannt. Sie sollen »lumbung« »als eine Art kollektiven Ressourcenfundus verstehen, der auf dem Prinzip von Gemeinschaftlichkeit beruht. Dieser versammelt Ideen, Wissen, Arbeitskraft, Finanzmittel und andere gemeinsam nutzbare Ressourcen und baut auf bestimmten Werten, Ritualen und Organisationsprinzipien auf«, heißt es offiziell. Es bleibt spannend.
Konkreter und malerisch richtet dann nach Ende der documenta die Schau »Contemporary African Portraiture« (ab 19. 11.) in der Kunsthalle Krems den Blick ebenfalls Richtung Süden und auf die zeitgenössische figurative Kunst aus Afrika, vor allem den Subsahara-Afrika-Staaten. »Die diverse, postkolonialistische und globale Perspektive lenkt den Fokus auf den afrikanischen Kontinent und seine florierende bildnerische zeitgenössische Praxis. Empowerment, Körperpositivität und ein neues Selbstbewusstsein prägen die Arbeiten der Künstlerinnen und Künstler. Figur und Porträt sind die signifikanten Genres, in denen Themen wie das eigene Ich, die und der Nächste, die Familie, Szenen des Alltags, Kultur, Identität sowie Mode und Lifestyle verhandelt werden«, sagt Kunsthalle-Krems-Direktor Florian Steininger und bittet zur nächsten Grenzüberschreitung – diesmal mit kurzer Anreise.